Rezension zu Wenn Kinder Völkermord überleben

Newsletter der Berliner Akademie für Psychotherapie

Rezension von Sascha Karminski

Neben ihrer Arbeit als Kinder-/Jugendlichenpsychoanalytikerin ist Suzanne Kaplan auch als Forschungsbeauftrage im Programm für Holocaust- und Genozidforschung an der Universität Uppsala tätig. Nach ihrem Gemeinschaftswerk mit Thomas Böhm über Rache (ebenfalls im Psychosozial-Verlag erschienen) hat sie sich im Rahmen ihrer Doktorarbeit »Child Survivors in the Holocaust« der Frage gestellt, wie Kinder durch Genozid hervorgerufene Extremtraumatisierungen überleben und verarbeiten können. Auf Initiative des Shoah Foundation Institute for Visual History and Education wurden 40 auf Video aufgezeichnete Interviews mit Holocaust-Überlebenden, die zur Zeit der Shoah Kinder waren, durchgeführt. Zu einem späteren Zeitpunkt erfolgten 17 Interviews mit Kindern, die den Völkermord in Ruanda überlebten. Ich möchte im Folgenden ihre sehr strukturierte, der grounded theory entlehnten Vorgehensweise und schrittweise Theoriebildungen nachskizzieren, da sie meines Erachtens zum Verständnis ihrer neuen Ansätze zur Affektregulierung in Extremsituationen notwendig sind.
Suzanne Kaplan bleibt in den Gesprächen zunächst emotional sehr nah am Erzählten, sie hat sich nach eigenem Ermessen fesseln lassen (S. 75). Erst später entwickelt sie daraus theoretische Überlegungen. Zentrale Punkte dabei sind: Was wird kommuniziert? Und: Wie werden Erinnerungen abgerufen? Als Referenztheorie bezieht sie sich neben Winnicott und Fonagy vorrangig auf Anzieus Konzept des Haut-Ichs, das die Bedeutung der Haut als wichtigstem Sinnesorgan hervorhebt. Gerade psychische Verletzungen und seelischer Schmerz können demnach als Eindringen in das Haut-Ich, als »Durchbruch des psychischen Reizschutzes« (S. 36) verstanden werden. Kaplan verwendet in der Folge den Begriff des Perforierens, um die traumatischen Erfahrungen ihrer Gesprächspartner zu fassen, und versteht darunter das Durchdringen der Sinne, das Gefühl des Auseinanderreißens und der Brandmarkung des eigenen Körpers. Auslöser können alle Sinneswahrnehmungen sein, die so eindringlich sind, dass sie nicht mentalisiert werden können. Den Schilderungen entstammende Beispiele sind starke Gerüche, Flugzeuglärm, aber auch der Anblick Ermordeter.
Die Kinder reagierten mit einer Strategie, die sie Raumschaffen nennt und bei der Kaplan die Unterpunkte Fantasieren und Handeln als Formen inneren und äußeren Widerstandes differenziert. Als weiteres häufiges Merkmal in den Schilderungen der Überlebenden hebt sie die Altersverzerrung hervor. Die Brüche im Zeitkontinuum bei Traumatisierten sind bereits wiederholt benannt worden. Kaplan erklärt sie mit zwei gegenläufigen Traumafolgen: dem Depersonalisierungen innewohnenden emotionalen Verkümmern auf der einen sowie einer Parentifizierung auf der anderen Seite. Folge sind verschiedene, nicht integrierte Formen im Selbst, beispielsweise ein hilfloser, kindlicher und ein helfender, pseudo-erwachsener Anteil.
Diese drei in den Interviews immer wieder auftauchenden Phänomene des Perforierens, Raumschaffens und der Altersverzerrung hat Kaplan nun für die erste Gruppe der Holocaust-Überlebenden auf folgende historische Situationen (nach Hans Keilson können wir sie auch als traumatische Sequenzen und Subsequenzen verstehen) bezogen: a) den Antisemitismus und die Rassengesetze, b) die Deportation, c) das Leben im Getto, d) das Leben im Untergrund (»Versteckte, Flüchtlinge, Partisanen«), e) Konzentrations- und Arbeitslager, f) Befreiung und g) die Überführung nach Schweden (»Die erste Begegnung mit dem neuen Land«). Selbstverständliche haben nicht alle Interviewten alle dieser Subsequenzen durchlaufen. Kaplan versucht aber, das Charakteristische eben dieser Subsequenzen in Bezug auf die entwickelten Begriffe Perforieren, Raumschaffen und Altersverzerrung herauszuarbeiten.
Die Interviews mit den ruandischen Überlebenden hingegen bilden keinen so zentralen Punkt in Kaplans Buch, auch werden sie nicht so systematisch analysiert, wie es bei denen der Holocaust-Überlebenden der Fall war. Sie dienen eher einer Colorierung des anhand der ersten Gruppe Entwickelten. Möglicherweise stellen sie auch einen – wenn auch leider nur halbherzig vollzogenen – Versuch dar, das an historischen Ereignissen Entwickelte auf eine aktuelle Situation zu beziehen. Zur Theoriebildung werden nach wie vor ausschließlich Interviewsequenzen der ersten Gruppe herangezogen. Für die eingangs aufgeworfene Frage nach der Affektregulierung (Wie wird kommuniziert?) vergleicht Kaplan nun zwei Schilderungen des gleichen Ereignisses. Besonderes Augenmerk wirft sie dabei auf das Alter des sich Erinnernden zum Zeitpunkt des geschilderten Ereignisses. Daraus entwickelt sie die Pole Traumabindung (assoziiert mit Perforieren) und Generationale Verbundenheit (assoziiert mit Raumschaffen). Darüber hinaus postuliert Kaplan ein Oszillieren zwischen Affekteinströmen und Affektisolierung sowie Affektaktivierung und Affektsymbolisierung bei jedem Individuum. Abschließend erfolgt die Anordnung dieses komplexen, mehrschichtigen Modells in Form eines sog. Affektpropellers als eines Instruments zur Visualisierung und zur Analyse der Affektregulierung bei einzelnen Personen.

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