Rezension zu Erich Fromm als Therapeut

Luzifer-Amor. Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse. 24. Jahrgang – Heft 47 – April 2011

Rezension von Prof. Dr. Lutz von Werder

Erich Fromm ist bis heute umstritten. Ein unkonventioneller Typ von Psychoanalytiker, schrieb er nicht nur Weltbestseller zu allgemeinen Problemen der menschlichen Leidenschaften wie die Kunst des Liebens, Haben oder Sein und Die Flucht vor der Freiheit, sondern engagierte sich auch politisch im linken Spektrum. So arbeitete er in der Anti-Atom Bewegung und versuchte in den 1960er Jahren, in den USA eine sozialistische Partei zu gründen.

25 Jahre lang bildete Erich Fromm Psychoanalytiker in Mexiko City für Lateinamerika aus und verband diese Ausbildung mit sozialer Feldarbeit der Kandidaten im mexikanischen Dorf. Außerdem berücksichtigte er in seinen Analysen die Psychologie des ZEN Buddhismus, war selbst in Meditationstechniken geschult und vertrat die Selbstanalyse als lebenslängliche Praxis ehemaliger Patienten.

Weil er aber kein Buch über seine psychoanalytische Praxis geschrieben hat, nahmen ihn viele Praktiker nicht ernst. Diese Lücke versucht Fromms Nachlassverwalter Rainer Funk mit dem vorliegenden Buch zu schließen. Er gliedert es in vier Kapitel: Das erste enthält Beiträge aus dem Nachlass von Fromm zu seiner therapeutischen Pra¬xis; im zweiten wird seine psychoanalytische Technik unter dem Stichwort »direkte Begegnung« ins Auge gefasst; im dritten begegnet uns Fromm als Supervisor; das vierte bietet Erinnerungen an ihn von Freunden, Patienten und Kollegen.

Das Ergebnis ist sicher kein Lehrbuch für die Praxis von Frommianern. Aber es ist, 30 Jahre nach dem Tod Erich Fromms, wahrscheinlich die letzte Quelle, um zu erfahren, wie Fromm seine freudo marxistische Theorie in seiner Praxis fruchtbar gemacht hat. Dabei entsteht ein eindrucksvolles Bild von seiner konfrontativen Präsenz im analytischen Setting nicht auf und hinter der Couch, sondern als Gespräch in Sesseln. Dass der Charakter des Patienten ökonomisch geprägt ist, kommt bei ihm ebenso zur Sprache wie die Möglichkeit eines sozialen Engagements. Für Fromm war das Unbewusste des Patienten auch immer durch die Gesellschaft bestimmt, und er hielt keine Analyse für möglich, ohne die sozialen Schicksale der Patienten in einer multikulturellen Gesellschaft zu thematisieren.

Bemerkenswert ist die Bescheidenheit, mit der Fromm die Wirkung der Psychoanalyse einschätzt. Er spricht von vielen Misserfolgen in seiner Praxis, sieht aber keine Alternative zur Psychoanalyse bei seelischen Krankheiten. Allerdings gibt es für ihn schwere seelische Störungen, bei denen der niedergelassene Analytiker nicht helfen kann. Ein besonders plastisches Bild von Fromm zeichnet sein bedeutendster Schüler, Michael Maccoby, der mit ihm die psychoanalytische Feldforschung im mexikanischen Dorf durchführte. Wir erfahren zum Beispiel, dass die beiden zwölf Stunden lang begeistert über Fromms Spätwerk Anatomie der menschlichen Destruktivität diskutierten.

Maccoby resümiert: Fromm wollte keine Frommianer ausbilden.

Von den 21 Beiträgen des Buches stammen zehn von Autoren, die an dem von Fromm 1946 mitgegründeten William Alanson White Institut in New York gearbeitet haben. Nur drei Autoren kommen aus seinem 1963 gegründeten Mexikanischen Psychoanalytischen Institut in Mexiko City; die Übrigen sind Freunde und Kollegen. Damit wird die wichtige mexikanische Praxis von Fromm wenig berücksichtigt. Immerhin erwähnt Salvador Millan die psychoanalytische Feldforschung des mexikanischen Instituts, bei der es darum ging, wie man bei Bauern die Leidenschaft zum Leben oder zum Tod erforschen und wie man ihnen diese Konzepte zugleich erklären und das Wachstum ihrer Liebe zum Leben unterstützen könne. Der Leser erhält einen gewissen Eindruck davon, wie Fromm mit seinen Kandidaten im mexikanischen Dorf als Teil ihrer Analytikerausbildung arbeitete.

Alle Beiträge machen deutlich, dass Fromm ein Mensch war, dem zu begegnen für das eigene Leben wichtig war. Die Art dieser Begegnung wird besonders in dem Beitrag von Funk deutlich. Er schreibt: »So direkt und schonungslos er mit meiner Seele in Kontakt trat, so fühlte ich mich doch nicht in die Enge getrieben, beurteilt, demaskiert oder bloßgestellt« (S. 83).

Es ist Rainer Funk zu danken, dass er Erich Fromm Freunden und Gegnern als praktischen Analytiker näher gebracht hat. Sein Buch ist für alle unverzichtbar, die an der Fromm/'schen Praxis interessiert sind. Es zeugt einmal mehr von Funks enormer Aktivität und Kompetenz als Fromm Herausgeber. Die kolportierte Nachricht, dass im Erich Fromm Archiv in Tübingen noch viele unveröffentlichte Fallgeschichten von Fromm liegen, wird damit widerlegt. Wenn es diese Geschichten gäbe, wären sie Teil des vorliegenden Buchs geworden.

zurück zum Titel