Rezension zu Die »Generation der Kriegskinder«
www.sehepunkte.de, März 2011
Rezension von Malte Zierenberg
Die deutschen »Kriegskinder« des Zweiten Weltkriegs, ihre
Erfahrungen und deren Folgen bis in die nächste Generation hinein
sind sowohl zu einem publizistisch höchst ertragreichen Gegenstand
als auch zu einem eigenen Forschungsfeld geworden. Der von Lu
Seegers und Jürgen Reulecke herausgegebene schmale Band zur
»Generation der Kriegskinder« kann sich deshalb auf beides
beziehen: auf Forschungen zu geteilten Erfahrungen der zwischen
1930 und 1945 Geborenen und auf den Prozess der allmählichen
Verfertigung einer »Generation« beim Reden über sie.
Um die Jahrtausendwende, so Seegers in ihrer Einführung,
verdichteten sich die Zeichen – eine neue »Generation« kann hier
als medial vermitteltes Deutungsangebot im Entstehen nachverfolgt
werden. Seegers nennt Gründe, die diese Konjunktur eines
generationellen Interpretaments befördert haben könnten: Das
Verschwinden der »Erlebnisgeneration« oder auch eine veränderte
öffentliche Erinnerungskultur, die in zunehmendem Maße darauf
insistierte, dass auch die Geschichte »deutscher« Kriegserfahrungen
als eine Geschichte von Opfern, von Entbehrungen, Leid und Verlust
zu schreiben sei.
Den Beiträgen geht es darum, Aspekte der Entstehung und Ausprägung
eines »Diskurses« um die »Generation der Kriegskinder« in den Blick
zu nehmen, die vielschichtige Gemengelage von Erfahrungswelten und
Sinnstiftungsmustern in einer Längsschnittperspektive zu
untersuchen und dabei dem Zusammenspiel von individueller
Erfahrung, öffentlich verhandelten Deutungsmustern und
Familiengedächtnissen nachzuspüren. Damit sind zwei, immer schon in
Spannung zueinander befindliche Pole angesprochen: die Erfahrungen
der »Kriegskinder« und die zum Teil sehr viel später einsetzende
Kommunikation über diese Erfahrungen - ohne dass diese Ebenen klar
zu trennen wären.
Miriam Gebhardt betrachtet in ihrem Aufsatz Normen, die den Umgang
von Eltern mit Säuglingen und Kleinkindern seit den 1930er Jahren
bis in die Nachkriegszeit prägten. Damit rückt sie »ideologische
Grundmotive« (33) in den Mittelpunkt der Betrachtung, die sie als
die Frühsozialisation von Kindern prägende leitende »Selbstbilder
einer Kultur« fasst. An der Schnittstelle von innerfamiliärem
Erziehungshandeln und staatlicher, von Experten formulierter
NS-Familienpolitik gelingen ihr auf der Grundlage von
»Elterntagebüchern« aufschlussreiche Einblicke in das Konzept der
sogenannten »Lebensbemeisterung«, das deutlich mit bürgerlichen
Erziehungsidealen brach.
Lu Seegers wendet sich in ihrem Beitrag der Vaterlosigkeit als
einer kriegsbedingten Erfahrung nach beiden Weltkriegen zu und
arbeitet für die Zeit nach 1945 sowohl Gemeinsamkeiten
(Vaterlosigkeit als privatisierte Kriegsfolgeerscheinung) als auch
Unterschiede in der jeweiligen Thematisierung bzw.
Nicht-Thematisierung des Phänomens heraus. Das Fehlen von
Erinnerungsgemeinschaften unter ostdeutschen »Kriegskindern« sieht
sie auch darin begründet, dass das Reden über das eigene Schicksal
im Westen an eine kritische Distanznahme gegenüber den Siegern des
Krieges gekoppelt blieb, die so in der DDR nicht möglich war.
Eva-Maria Silies Beitrag zur generationellen Erfahrung mit
Sexualität und Empfängnisverhütung in der Bundesrepublik der 1960er
Jahre weist nach, dass die weiblichen »Kriegskinder« – bei ihr die
zwischen 1935 und 1945 Geborenen - zögerlicher von den neuen
Möglichkeiten sexueller Selbstbestimmung Gebrauch machten.
Inwieweit das etwas mit ihren Kriegserfahrungen zu tun hatte, wird
allerdings kaum deutlich.
Barbara Stambolis stellt anregende Überlegungen zu einer
vernachlässigten Erfahrungsdimension der sogenannten
»Kriegskindergeneration« an, indem sie nach den
»erinnerungskulturellen Aspekten« (118) einer »ge- und ersungenen
Geschichte« fragt. Ihre knappe Skizze stellt indes einstweilen mehr
Fragen als sie beantworten kann: nach den Liedern der
»Kriegskindergeneration«, ihren Texten und ihrem ›leisen‹
Weiterwirken, aber auch nach dem Umgang von Zeithistorikern mit
dieser schwer zu greifenden erfahrungsgeschichtlichen Komponente
von Lebensläufen im 20. Jahrhundert.
Eingelöst wird die von Seegers geforderte Analyse der
»Kriegskinder« in ihrer Bipolariät zwischen Erfahrungs- und
Kommunikationsgemeinschaft insbesondere von Ulrike Jureit, Dorothee
Wierling und Malte Thießen. Jureit klärt in ihrem Aufsatz zum
Generationen-Gedächtnis als Konzept kommunikativer
Vergemeinschaftung präzise die Begrifflichkeiten. Die Autorin fasst
Generation als eine »relationale Selbstthematisierungskategorie«
und macht plausibel, dass eine solche Selbstthematisierung als
»kommunikative Erinnerungsgemeinschaft« verstanden werden kann. Sie
klärt darüber hinaus den Bestand möglicher konstitutiver
Erfahrungen, die man sinnvollerweise als einschneidende, geteilte
Erfahrungen »der Kriegskinder« auffassen könnte und die ein
spezifisches Deutungsbedürfnis entstehen lassen konnten:
Abwesenheit und Verlust von Bezugspersonen (insbesondere des
Vaters) sowie massive erlebte oder imaginierte Gewalterfahrungen
usw. (128f.)
Statt nach der »Kriegskindergeneration« ›an sich‹ fragt Jureit in
erster Linie nach den ›kommunikativen‹ Bedingungen generationeller
Vergemeinschaftung« (131). Weil in ihrem Fall Gemeinschaftsstiftung
und Erinnerungsleistung in eins fallen, steht die generationelle
Selbstthematisierung der »Kriegskinder« unweigerlich in einem
Spannungsverhältnis zur NS-Opfer-bezogenen bundesdeutschen
Erinnerungskultur. Hierin sieht Jureit ein positives, irritierendes
Moment der Erinnerungsleistung der »Kriegskinder«, die einen »stark
reglementierten Diskurs in Frage« stellten und damit zu einer
wünschenswerten »Pluralität von Erinnerungserzählungen« beitrügen.
(135)
Dorothee Wierlings Text formuliert einige Kernaussagen bereits im
Titel: »›Kriegskinder‹: westdeutsch, bürgerlich, männlich?«. Sie
sieht die Entstehung der neuen »Generation« als Produkt zweier
gegenläufiger Erzählstränge: der Selbstbeschreibung von
Betroffenen, die bisweilen zugleich als Wissenschaftler sprechen,
und einer kritischen Kommentierung dieser Selbstbeschreibung, die
in der Rede über die »Kriegskinder« vor allem einen problematischen
Anschluss an Selbstviktimisierungsbeiträge in der deutschen
Öffentlichkeit erkennt. (143) Sie verweist zu Recht auf eine
fehlende Trennschärfe in der Verwendung des Kriegskinderbegriffs,
der zwischen analytischer Kategorie und »kulturpolitische[m]
Programm« (145) changiert. Indem Wierling zudem die dominante
Sprechergruppe untersucht, bei der es sich um eine erstaunlich
homogene Einheit aus etwa 50 westdeutschen, wissenschaftsaffinen
Männern handelt, kann sie die perspektivischen Verzerrungen des
Kriegskinderdiskurses, der fälschlicherweise vorgibt, für alle
Kriegskinder zu sprechen, klar benennen. Gerade die Verwischung der
Grenzen zwischen autobiografischer Erzählung und wissenschaftlicher
Auseinandersetzung und die damit gegebene Gefahr einer mangelnden
Distanz zum Gegenstand arbeitet sie präzise heraus. Sie plädiert
dafür, »Kriegskinderschaften« als Indikatoren sich wandelnder
Selbstverständnisse der deutschen Nachkriegsgeschichte selbst zu
historisieren.
Malte Thießens klar strukturierter Beitrag misst das Verhältnis von
öffentlicher und individueller Erinnerung am Beispiel der Hamburger
Luftkriegsereignisse aus und verweist auf vielfältige gegenseitigen
Bezugnahmen. Lokale Erinnerungsrituale und -erzählstränge bildeten
nach 1945 notwendige und anschlussfähige Anlässe für individuelle
Erinnerungen, ermöglichten die intergenerationelle Weitergabe von
Erfahrungen und gaben zugleich Muster vor, die der individuellen
Erfahrungsdeutung als Folie dienen konnten. Thießen hebt hervor,
dass individuelle Erinnerungen damit sowohl in den »Referenzrahmen«
von Familiengedächtnissen als auch in kommunale und nationale
Gedächtnislandschaften eingebettet blieben. Sein Hinweis auf lokale
Tradierungen und ihre Effekte für Formen der individuellen, Sinn
stiftenden bzw. fortschreibenden Erinnerungsleistung schöpft
erkennbar und überzeugend aus eigener Forschungsarbeit.
Manches in diesem Band kennt man bereits aus anderen
Veröffentlichungen. Das ist ein kleines Problem. Ein größeres wird
– etwa bei Dorothee Wierling – zum Teil in den Beiträgen selbst
thematisiert. Wenn man die erfahrungsgeschichtliche Dimension des
Themas ernst nimmt, wird man nicht umhin kommen, die sehr
disparaten Erfahrungsmöglichkeiten etwa der Jahrgänge 1930 und 1945
zu problematisieren. Spätestens hier dürfte deutlich werden, was
einzelne Beiträge in diesem Band immer wieder betonen: Dass für die
Rede über die (eigene) »Kriegskindergeneration« bisweilen mediale
Erzählpatterns wichtiger sind als vermeintlich geteilte
Erfahrungen. Der vorliegende Band versammelt in dieser Hinsicht
wichtige Distanzierungs- und Klärungsansätze.
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