Rezension zu Verwaltung des Krankenmordes

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Rezension von Gabriele Kremer

Verwalteter Massenmord

Im Mittelpunkt von Peter Sandners über 700 Druckseiten umfassendem Buch Verwaltung des Krankenmordes steht der Bezirksverband Nassau im damaligen Regierungsbezirk Wiesbaden als »exemplarischer Akteur« (S. 9) im Rahmen der sogenannten Euthanasieverbrechen, denen in den Jahren zwischen 1939 bis 1945 vermutlich mehr als 200.000 psychisch Kranke, Behinderte und sozial Abweichende zum Opfer fielen. Die »Initiative und Verantwortlichkeit« (S. 9) dieser Verwaltungsinstanz für den Massenmord präzise auszuloten, ist Sandners Anliegen. Da fast keine Quellen aus der Wiesbadener Zentralverwaltung erhalten sind, fußt seine Arbeit auf einer Vielzahl unterschiedlicher Ersatzüberlieferungen (S. 18), die mit Präzision und Konsequenz gesammelt, ausgewertet sowie prägnant präsentiert werden.

Die Studie folgt der Chronologie der Ereignisse, orientiert sich aber gleichermaßen an einer sachlogischen Struktur. Im ersten Teil legt Sandner die »Grundlagen«. Erläutert werden zunächst die Aufgaben und die Verfassung der Provinzialverbände unter besonderer Berücksichtigung des Fürsorgebereichs. In einem zweiten Kapitel rekonstruiert er die Geschichte des Bezirksverbandes in der Weimarer Republik und ermöglicht so eine Einschätzung des Status quo am Vorabend der nationalsozialistischen Herrschaft. Da sich »der Regierungsbezirk Wiesbaden (...) im Hinblick auf seine Haltung zur NSDAP als eine im Reichsvergleich durchschnittliche Region« (S. 87) darstellte, kommt dem zweiten Teil eine besondere Bedeutung zu. Nachgezeichnet wird hier die »Machtübernahme« in der Verwaltung und die »Gleichschaltung«, die »Nazifizierung der Belegschaft« sowie in einem dritten, alltagsgeschichtlich akzentuierten Kapitel die »Ausrichtung auf die ‚neue Zeit«. Deutlich wird dabei, dass sich ein Großteil der Mitarbeiter des Bezirksverbandes auch mit einem nationalsozialistisch umstrukturierten und entsprechend ideologisch aufgeladenen Arbeitgeber positiv identifizieren konnte; insofern waren, lange vor 1939, entscheidende Grundlagen für eine Mitarbeit am Mordprogramm gelegt.
Der dritte Teil behandelt die Geschichte des Fürsorgebereichs im Nationalsozialismus. Zunächst wird im Kapitel über die »Entkonfessionalisierung des Anstaltswesens« deutlich, wie es verwaltungstechnischer Raffinesse gepaart mit nationalsozialistischer Brutalität gelang, den Einfluss der Kirchen auf die Situation der Kranken und Behinderten vielerorts weitgehend auszuschalten. In welcher Weise sich die rassenhygienische Ausrichtung im Bezirksverband etablierte und welche Folgen sie hervorbrachte, wird anschließend thematisiert. Besonders hervorzuheben ist dabei die Aufmerksamkeit, die Sandner der Frage nach »Euthanasie«-Bestrebungen und Krankenmorden bereits vor der so genannten »T4«-Aktion widmet. Indem er die Haltung maßgeblicher Protagonisten der Verwaltung und einflussreich positionierter Ärzte des Bezirksverbandes detailliert rekonstruiert, gleichzeitig aber den Blick auf die Geschehnisse im ganzen Reich wahrt, entlarvt sich der Beginn der systematischen Mordaktion im Bezirksverband lediglich als Kulminationspunkt einer Entwicklung, deren menschenverachtender Charakter bereits Jahre vorher offen zutage getreten war.
Im vierten Teil wird die Zeit der Gasmorde in der an die »T4« verpachteten Bezirksanstalt Hadamar ausführlich dargestellt. Ausgehend von einer Skizzierung der sich verändernden Machtverhältnisse lotet Sandner aus, in welchem Maße Verwaltungsführung und -mitarbeiter an der Vorbereitung und Durchführung der Morde beteiligt waren. Dabei zeigt sich, dass den Provinzialverbänden und Fürsorgeverwaltungen in ihrer Haltung gegenüber der zentralen Mordorganisation durchaus ein gewisser Handlungsspielraum blieb. Zwar stand außer Frage, dass alle regionalen Anstaltsträger durch das Ausfüllen der Meldebögen und die Verlegung der Kranken grundlegende Beiträge zur Mordaktion leisteten; weitergehende Unterstützungsaktionen allerdings resultierten in entscheidendem Maße aus dem politischen Willen der Entscheidungsträger in der Verwaltungsspitze. Für den Bezirksverband Nassau lässt sich sagen, dass er insbesondere auf Betreiben seines skrupellosen und machtbesessenen Anstaltsdezernenten Bernotat zu einem »verlässlichen Partner der Mordorganisation« (S. 510) wurde, der »keine Wünsche von ‚T4 unerfüllt ließ« und auf diese Weise »unter den preußischen Provinzial- und Bezirksverbänden (…) 1941 zweifellos die erste Stelle« (S. 510) einnahm. Wie Peter Sandner im abschließenden fünften Teil des Buches zeigt, wurde diese Position auch nach Beendigung der Gasmordaktion behauptet. Insbesondere in den Landesheilanstalten Eichberg und Weilmünster starben Anstaltspatient/innen massenweise durch die desolaten Lebensbedingungen, durch Nahrungsmittelentzug und Medikamente, die ihnen die Ärzte mit Erlaubnis, vielleicht gar auf Geheiß der Verwaltung verabreichten. Die finanziellen Vorteile, die die Verwaltung hieraus zog, führt Sandner deutlich vor Augen. Die Anstalt in Hadamar nahm insofern eine Sonderrolle ein, als die Morde dort erneut zentral koordiniert wurden. Die Kooperation zwischen »T4«-Zentrale und regionaler Trägerbehörde funktionierte offenkundig reibungslos und kostete vermutlich über 4.500 Menschen das Leben. Dazu zählten im Zuge einer Radikalisierung des Mordwillens auch Fürsorgezöglinge, körperlich erschöpfte bzw. kranke Zwangsarbeiter/innen und so genannte »jüdische Mischlingskinder« in Fürsorgeerziehung. Gerade in diesen abschließenden Kapiteln, in denen Sandner eine Fülle bislang unbekannter Details präsentiert, zeigen sich noch einmal die Vorzüge der Arbeit insgesamt.

Dem Verfasser gelingt es aufgrund seines profunden Wissens um verwaltungstechnische Abläufe, die Handlungsspielräume aller Beteiligten differenziert auszuleuchten. Wie einzelne sich warum entschieden, lässt er auch vor dem Hintergrund persönlicher Orientierungen und Motive verständlich werden und ermöglicht dem Leser auf diese Weise tatsächlich ein profundes Urteil über die Verantwortlichkeit der Verwaltungsmitarbeiter. Darüber hinaus räumt der Autor durch seine konsequente Klärung aller Details mit einer Vielzahl von Ungenauigkeiten auf, die insbesondere die Mordaktionen ab 1942 betreffen. Damit wird schon deutlich, dass die Arbeit weitere Untersuchungen über die »Euthanasie«-Morde im Dritten Reich meines Erachtens entscheidend beeinflussen wird. Aufgrund der engen Verbindungen zwischen den Mordaktionen an Kranken einerseits und Juden sowie Sinti und Roma andererseits sind Sandners Ergebnisse aber auch für künftige Forschungen über die nationalsozialistischen Genozidverbrechen insgesamt von hoher Relevanz.


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