Rezension zu C.G. Jung - Zerrissen zwischen Mythos und Wirklichkeit
Campus Spiegel – Die Zeitschrift der Campus Naturalis Akademien und der Campus Hochschule I.G. Ausgabe 1/2011
Rezension von Alexandra Müller-Benz
Die Geschichte der Psychoanalyse ist bis heute von Spaltungen
geprägt. Die Zerrissenheit im Stammhaus der Jungschen Psychologie
dient den Autoren dieses Bandes zur detaillierten Fallstudie,
anhand derer sie Ursachen und Verlauf individueller und kollektiver
Spaltungsprozesse aufzeigen. Das Buch beleuchtet zunächst Jungs
Verstrickung in den Nationalsozialismus und setzt sich kritisch mit
der Haltung Jungscher Therapeuten mit ihrem Lehrer auseinander. Im
Anschluss wird die verpasste Aufarbeitung der Trennungsgeschichte
von Freud und Jung analysiert sowie seine persönliche Pathologie
und die Betonung des Mythischen bei gleichzeitigem Mangel an
klinischer Theorie.
Die Autoren gelangen zu der Erkenntnis, dass die Verflechtung
personengebundener Tradierung psychoanalytischer Werte mit einer
Anfälligkeit zu narzisstischer Selbstinszenierung immer wieder zu
neuen Spaltungen führt und konstatieren, dass sich dies in der
Generationenfolge als das übergreifende Schicksal aller Nachkommen
Freuds erweist. Sie stellen die Frage, ob diese diesem destruktiven
Geschehen unausweichlich ausgeliefert sind oder der
Wiederholungszwang auch in der Psychoanalyse selbst überwunden
werden kann.
Das Buch bietet eine mutige Auseinandersetzung nicht nur mit dem
Phänomen der Inkohärenz innerhalb zweier Verfahren, von denen das
eine sich gleich dem ungehorsamen Kind individualisiert hat, gegen
den allmächtigen Vater aufbegehrt hat, sondern immanent auch mit
der Frage wie fehlbar ein Lehrer sein darf. Jung wird
entmystifiziert, als Mensch zugänglich gemacht, der einen schweren
Fehler begangen hat – ob eine Verstrickung in eine
menschenverachtende Ideologie wie sie ihm unterlaufen entschuldbar
ist, in welchem Licht sie sein Werk erscheinen lässt – damit muss
sich jeder, der jungianisch arbeitet, selbst kritisch
auseinandersetzen. Wichtig erscheint mir, dass das Buch einen
Schritt vollzieht, der überfällig ist: es lädt die Erben Freuds und
Jungs ein, sich zu wertschätzend zu begegnen, es schafft einen Raum
eine alte Familienfehde, in der diese Erben durch ihre Väter
verstrickt wurden, zu befrieden. Diese Einladung kommt noch keinem
Friedensabkommen gleich, aber es ist ein Schritt in die richtige
Richtung. In diesem Sinne ist es im Übrigen (unbewusst?) systemisch
und eröffnet vielleicht sogar die Option künftig auch
wissenschaftstheoretisch die psychotherapeutischen Verfahren
insgesamt stärker in einen Austausch zu bringen – wie dies im
praktischen klinischen Alltag schon längst erfolgt.
Erschienen in: campus Spiegel. Die Zeitschrift der Campus Naturalis
Akademien und der Campus Hochschule I.G. Ausgabe 1/2011. Zu
beziehen unter info@campusnaturalis.de.