Rezension zu Der kleine Vogel heißt Goral
Märkische Allgemeine, Potsdamer Stadtkurier
Rezension von Issio Ehrich
Schicksalskämpferin
Der Holocaust hat in Ruth Korens Familie klaffende Wunden
hinterlassen
Eine jüdische Autorin hat Schülern des Humboldt Gymnasiums aus dem
Buch »Der kleine Vogel heißt Goral« vorgelesen – einer
erschütternden Familiengeschichte.
Ihre Augen, ihre Stirn, ihre Mundwinkel – ihr ganzes Gesicht
wandelt sich bei jenen Sätzen. »Lasst euch niemals aufhetzen«, sagt
Ruth Koren. »Versprecht mir das.« Angst, Verzweiflung, Sorge –
welches Gefühl die Züge der 61-Jährigen bei diesen Worten so
verzerren, lässt sich nur erahnen. Die Wirkung ihrer Erscheinung
bleibt nicht im Ungefähren. Koren hinterlässt Beklommenheit bei den
Schülern des Humboldt-Gymnasiums.
Die Jüdische Autorin hat gestern Deutsch- und Geschichtskurse des
Gymnasiums besucht, um über den Holocaust zu sprechen und aus ihrem
Buch »Der kleine Vogel heißt Goral« zu lesen. Es ist die Geschichte
ihrer Familie und vor allem die ihres Vaters. Der deutsche Jude kam
ins KZ Stutthof bei Danzig. Er verlor dort zwar nicht sein Leben,
aber seine Beine. Aufseher schubsten ihn vor einen Zug.
Korens Mutter habe ihr immer von einem kleinen Vogel erzählt, sagt
die Autorin, ein Vogel, der dem Menschen sein Leben lang folgt.
Jener Vogel heiße Goral, habe sie gesagt – Schicksal. Vielleicht
sei es Schicksal gewesen, das ihr Vater erst Jahre nach dem Krieg
an einem Herzinfarkt bei einem Besuch in Israel gestorben ist, sagt
Koren. Vielleicht hat sie aus diesem Grund den Buchtitel gewählt.
Doch Koren wirkt nicht wie eine Deterministin – zu groß erscheint
in ihr der Wille, Gräueltaten nicht als unumgänglich hinzunehmen.
Auch aus diesem Grund ist sie anlässlich des Antirassismustages
nach Potsdam gekommen.
»Ich lese gern vor Schulklassen«, sagt sie. »Ich habe das Gefühl,
dass junge Menschen noch nicht genug über den Nationalsozialismus
wissen.« Das Ende des Zweiten Weltkrieges sei schließlich nicht das
Ende des Antisemitismus in Deutschland gewesen. »Idioten sterben
nicht aus.«
Die rund 30 Schüler wirken fast benommen nach der Lesung. Es
dauert, bis es einer von ihnen wagt, eine erste Frage zu stellen.
»Warum leben Sie in Israel, obwohl es in Deutschland heute viel
sicherer ist?«, fragen sie vorsichtig. »Weil ich mich als Jüdin
fühle.« Die wohl drängendste Frage der Schüler wirft Koren gleich
selbst auf. Denn Schüler stellen sie fast immer, wenn die Autorin
liest. Wie kann man Palästinenser erschießen und die Blockade ihrer
Wohnräume billigen, wenn man erlebt hat, was das jüdische Volk
erlebt hat? Korens antwortet mit einer Gegenfrage: »Kennt ihr einen
Staat, der angegriffen wird mit Raketen und sich nicht wehrt?«
Spätestens an dieser Stelle ist sich manch einer in dem Klassenraum
nicht mehr sicher, ob sie nicht doch an das Schicksal glaubt. Eine
Antwort auf die Frage, wie man den Teufelskreis gegenseitiger
Gewalt zwischen Palästinensern und Juden beenden könnte, fällt ihr
nicht ein. Und doch gibt sie die Hoffnung auf Frieden in Israel
nicht auf.