Rezension zu ADHS (PDF-E-Book)
Psychologie heute 04/2009
Rezension von Klaus Wilhelm
Nur Geduld! Ein Sammelband hilft, ADHS-Kinder zu verstehen. Keine
leichte Kost, aber die Mühe wert.
Es ist ja nicht so, dass es an Büchern zum Thema
Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) mangelt.
Im Gegenteil: Vor allem im Ratgebersektor sprengt die Literatur
über die, (gelinde gesagt) schwierigen Kinder alle Buchregale und
empfiehlt nicht oder minder sinnvoll, wie denn mit ihnen umzugehen
sei. Brauchen wir also noch ein Werk? Ja, das brauchen wir! Denn
»ADHS. Symptome verstehen – Beziehungen verändern« präsentiert ein
praktikables Behandlungsmodell, das psycho-, beziehungs- und
familiendynamisch orientiert ist. Und in Zeiten, in denen das
dominierende biomedizinische Therapiekonzept Alternativen rundum
ablehnt und eine offene Diskussion über die vielfältigen Ursachen
der Störung mit seinen leicht angreifbaren Argumenten plattwalzt,
erscheint das von Terje Neraal und Matthias Wildermuth
herausgegebene Buch mehr als willkommen. Es enthält eine Fülle von
Anregungen, wie sich eine sinnvolle, für alle Beteiligten lohnende
Therapie gestalten lässt, und verschweigt auch nicht, wie mühsam
sie sein kann und welch Geschick und Energie es vonseiten des
Therapeuten braucht.
Leicht konsumieren lässt sich das Werk allerdings nicht, ist es
doch gespickt mit Fachbegriffen und sprachlich entsprechend
sachbuch-trocken gehalten. So muss ein Laie mit dem Schreibstil
ringen, ungeachtet der überaus kernigen Zusammenfassungen zum Ende
der Kapitel, in bester angloamerikanischer Sachbuchmanier. Nein,
ein Lesevergnügen kommt anders daher.
Weil die kleinen schwierigen Patienten kaum bis gar nicht über ihre
Gefühle und Gedanken sprechen, bleibt der Zugang zur Seelenwelt der
Kinder über die Sprache oft verschlossen, was viele Therapeuten
mutlos macht. Andere Wege des Zugangs sind deshalb gefragt, die die
zehn im Zentrum des Buches stehenden Fallgeschichten exemplarisch
kennzeichnen. Dabei räumen die gleichermaßen psychiatrisch,
psychosomatisch und psychologisch ausgebildeten Herausgeber ein,
dass die unspezifischen Symptome auch biologischen Ursprungs sein
können, aber keineswegs sein müssen – schon gar nicht bei den
meisten der inzwischen 500.000 Kinder, die an ADHS leiden sollen
und nach gängigem Modell oft mit Psychostimulanzien behandelt
werden.
Detailliert machen die Herausgeber und vier weitere Autoren anhand
der Fallbeispiele deutlich, wie wichtig eine sorgsame Diagnostik
unter Beteiligung der ganzen Familie ist. Hier liegt für die
Experten einer der Schlüssel für eine psychologisch gestaltete
Therapie, die auf die umstrittenen Medikamente verzichtet.
Die Störungen können als Ausdruck innerer psychischer Bedrängnis
verstanden werden (entwicklungschronologisch und psychodynamisch),
durch die Beziehungen der Familienmitglieder untereinander
(beziehungsdynamisch und bindungstheoretisch), durch die eigene
Familiengeschichte der Eltern, die ihre aktuelle Rolle als Eltern
der gestörten Kinder beeinflusst (Mehrgenerationen-Perspektive),
oder durch den Druck, der von Kindergarten oder Schule auf die
Kinder ausgeübt wird (soziodynamische Perspektive). Die Autoren
machen auch deutlich, dass die Gespräche mit allen Beteiligten
offen geführt werden sollten, wobei Schuldgefühle nicht
verschwiegen werden dürften.
Diese offene Herangehensweise wurde in einer Studie überprüft, die
wie fast jede Untersuchung zum Thema ADHS ihre methodischen Mängel
hat, aber eines andeutet: Sobald es nach einer schwierigen
Anfangsphase zu einem therapeutischen Bündnis kommt, in dem der
Therapeut selbst kühlen Kopf bewahrt, ermöglicht die komplexe
psychologische Behandlung substanzielle Fortschritte. Das Konzept
lässt sich von den Therapeuten praktisch umsetzen. Für
aufgeschlossene Eltern ist das Buch eine wichtige Lektüre, wenn sie
wirklich einsteigen wollen in die Problematik ihrer Kinder, die so
schwer zu verstehen sind. Vorausgesetzt, die Eltern bringen beim
Lesen mehr Geduld auf als ihr Nachwuchs.