Rezension zu Psychodynamische Psychiatrie
Dr. med. Mabuse. Zeitschrift für Gesundheitsberufe März/April 2011
Rezension von Georg Singe
Ein Buch zur psychodynamischen Psychiatrie war in deutscher Sprache
längst überfällig: Die Übersetzung der vierten Auflage der
Originalausgabe »Psychodynamic Psychiatry in Clinical Practice»
(2005) von Glen 0. Gabbard schlägt nun endlich eine Brücke von der
klassischen Psychoanalyse zu einer modernen, interdisziplinären,
psychodynamischen Psychiatrie, die schulenübergreifend ein
Interesse daran hat, sich der wissenschaftlichen und empirischen
Überprüfung ihrer Therapieerfolge zu stellen. Fünf Grundprinzipien
prägen die psychodynamische Psychiatrie: der besondere Wert der
subjektiven Erfahrung; die Auffassung der meisten Symptome und
Verhaltensweisen als Ausdruck des Unbewussten; der psychische
Determinismus, die Bedeutung der Vergangenheit und die Arbeit mit
Widerständen.
Der Autor ist ein renommierter US-amerikanischer Psychiater mit
psychoanalytischer Ausrichtung. In die Überarbeitung seines
Standardwerks hat er den neusten Stand der Psychiatrieforschung
sowie Therapiepraxis aufgenommen und auch die Forschungsergebnisse
der Neurobiologie integriert. Nach seiner Auffassung kann nämlich
keine psychoanalytische Theorie die Erkenntnisse zur Entwicklung
des Gehirns außer Acht lassen.
Das Buch gliedert sich in drei Teile: Im ersten werden grundlegende
Prinzipien und Behandlungsansätze der psychodynamischen Psychiatrie
dargestellt, im zweiten die psychodynamischen Ansätze bei
Achse-I-Störungen (wie Schizophrenie, affektive Störungen,
Angststörungen, dissoziative Störungen, sexuelle Dysfunktionen,
Drogenmissbrauch und Essstörungen sowie Demenz etc.) ausgeführt, im
dritten Teil schließlich die psychodynamischen Ansätze bei
Achse-Il-Störungen (wie paranoide, schizoide und schizotypische
Persönlichkeitsstörungen, Borderline, narzisstische
Persönlichkeitsstörung, dissoziale Persönlichkeitsstörung,
hysterische und histrionische Persönlichkeitsstörungen etc.).
Hilfreich sind jeweils die Abgrenzungen der psychodynamischen
Sichtweise zu klassischen Ansätzen der Psychoanalyse und einer
»deskriptiven Psychiatrie« sowie die vielen Fallbeispiele aus dem
klinischen Alltag. Ausführliche Literaturverzeichnisse runden die
einzelnen Kapitel ab. Ein ausführliches Register am Ende des Buches
hilft, Informationen zu Einzelfragen schnell aufzufinden.
Mit der Darstellung der theoretischen Grundlagen im ersten Teil des
Buches gelingt es dem Autor, den Leser herauszufordern und ihn zu
animieren, sich im Hinblick auf die unterschiedlichen Theorien der
modernen dynamischen Psychiatrie zu positionieren. Auch für nicht
psychoanalytisch geprägte Ärztinnen und Therapeuten ist das Buch
eine große Bereicherung. Es ist erfrischend zu lesen, dass die
grundlegende Haltung des Psychiaters wichtig ist, klinische
Situationen nicht in eine bestimmte Theorie zwängen zu wollen und
sich vom Patienten in entsprechende Deutungen und Theorien führen
zu lassen.
Immer wieder wird die subjektive Sicht und die Notwendigkeit der
Anpassung der theoretischen Perspektive an die Bedürfnisstruktur
der Patientinnen betont. Diese fast schon konstruktivistische Sicht
auf die Kommunikation und die Interaktionen im Behandlungskontext
macht die psychodynamische Psychiatrie anschlussfähig an die
Konzepte Systemischer Therapie.
Das Lehrbuch ist für alle, die aus psychodynamischer Sicht die
Praxis einer modernen Psychiatrie erlernen und bewerten wollen,
eine hervorragende Möglichkeit, eigene Kompetenzen vor dem
Hintergrund des aktuellen internationalen Forschungsstandes
auszubauen. Auch als Nachschlagewerk zu einzelnen Themen ist das
Buch für die Alltagspraxis in der ambulanten und stationären
Psychiatrie zu empfehlen, ebenso wie für die Zusammenarbeit
zwischen PsychotherapeutInnen und Psychiaterlnnen.