Rezension zu Kinderheim Baumgarten

Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie 2/2011

Rezension von Thomas von Salis

Eine besonders wichtige Rolle in Bernfelds politisch engagiertem Leben spielte die Realisierung institutioneller Pädagogik, die von psychoanalytischen und sozialrevolutionären Gedanken geprägt war.

Bernfeld stützte sich mit einer ganz eigenen Intuition auf die damals vorliegende psychoanalytische und soziologische Literatur (S. Freud, W. Jerusalem). Er fand, zusammen mit hingebungsvollen Mitarbeitern, einen Umgang mit den verwahrlosten (»nicht erziehbaren«) Kindern und Jugendlichen (von Barth vor allem im Kapitel 3 geschildert), der in kurzer Zeit zu großen Fortschritten in der Zivilisierung der Kinder führte.

Siegfried Bernfelds »Versuch mit neuer Erziehung« war ursprünglich sozialpolitisch viel ambitiöser angelegt. Das Kinderheim Baumgarten war eine Etappe im Kampf um gesellschaftliche Veränderung, der mit der Unterstützung jüdischer Organisationen zu einer institutionellen Verankerung einer revolutionären Pädagogik hätte führen sollen. Es hätte damit den großen Massen der damals nach Wien strömenden Kinder und Jugendlichen eine emanzipatorische Bildung vermittelt werden können. Die geplante Schaffung des jüdischen Staates in Palästina spielte dabei eine entscheidende Rolle. Die Geldgeber konnten und wollten aber Bernfelds Projekte nicht so weitgehend unterstützen, und so blieb es bei dem kurzen Versuch mit dem Kinderheim Baumgarten. Von den Pionierleistungen Bernfelds – wie übrigens auch Aichhorns zur gleichen Zeit – ist einiges in die festen Bestände heutiger Pädagogik eingegangen.

Daniel Barth ist Dozent an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik in Zürich, und das vorliegende Buch ist seine Dissertation.
Er benutzt unter anderem die Konzepte der Operativen Gruppe zum besseren Verständnis des Gegenstands, und dies wird da fruchtbar, wo es um den Übergangsbereich zwischen dem Individuellen und dem Kollektiven geht. Da führen die Konzepte Pichon-Rivières und Bauleos, aber auch Ludwig Flecks, zu einem neuen Verständnis der Bernfeldschen Texte.

Barths Analysen der Texte Bernfelds geben dem Leser, der die Mühe nicht scheut, Gelegenheit zur ausbauenden Vertiefung seines eigenen Denkens. Sozialphilosophie, Soziologie, Psychoanalyse und auch Institutionsanalyse werden zur Aufarbeitung der Baumgarten-Geschichte in gegenseitiger konzeptueller und praktischer Abgrenzung eingesetzt. Barth stützt sich dabei unter anderem auf Autoren wie Adorno, Marcuse und in der Folge Habermas, und auf neuere Literatur, wie zum Beispiel für die Institutionsanalyse auf E. O. Graf.
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