Rezension zu Der halbe Stern
Wissenschaftlicher Literaturanzeiger
Rezension von Charlotte Kitzinger
Die Verfolgungsgeschichte und Identitätsproblematik von
»Mischlingen« und jüdischen »Mischehepaaren« in der NS-Zeit ist
bisher trotz der Forschungen von Beate Meyer noch nicht hinreichend
aufgearbeitet worden. In den Augen der nationalsozialistischen
Rasseideologie stellten sie eine fest umrissene Gruppe dar,
aufgrund der Religionszugehörigkeit der Großeltern wurde der Anteil
an »jüdischem Blut« eines Menschen bestimmt. Tatsächlich lebten
»Mischlinge« und »Mischlingsfamilien« jedoch zahlreich und
verstreut inmitten der deutschen Gesellschaft, keineswegs als
biologisch fundierte Einheit abgrenzbar.
Die Publikation »Der halbe Stern« thematisiert in 18 Beiträgen
unter interdisziplinären und transgenerationellen Aspekten die
Lebens- und Verfolgungsgeschichten der Menschen, die aufgrund ihrer
teiljüdischen Herkunft oder Familienzugehörigkeit in das Netz
rassistischer Verfolgung gerieten. Sie sind das Ergebnis der Tagung
»Sag bloß nicht, dass du jüdisch bist«, die der Verein »Der halbe
Stern e.V« im März 2009 in Berlin veranstaltete. Die Autoren sind
Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen und Mitglieder aus
betroffenen Familien der ersten und zweiten Generation.
Das Themenspektrum der Beiträge umfasst sowohl die Darstellung der
geschichtlichen Entwicklung des »antijüdischen Affekts« und der
»Judenfrage«, die eng mit der Angst vor dem »unsichtbaren« – weil
säkularisierten oder konvertierten – Juden verknüpft sind, als auch
vor allem die differenzierte Betrachtung der spezifischen
Gefährdungs- und Überlebenssituation der jüdischen »Mischlinge« und
»Mischehepartner«. Die – häufig bis heute andauernde –
Identitätsproblematik der Betroffenen wird differenziert aus
persönlich-biografischer und psychologisch-wissenschaftlicher Sicht
thematisiert.
Die Autoren machen deutlich, dass die »privilegierten Rechtlosen«
(S. 151), wenngleich sie nicht generell deportiert und getötet
wurden, dennoch unter einem erweiterten und oftmals willkürlich
ausgeübten Sonderrecht standen, das sie tendenziell aus der
Mehrheitsgesellschaft ausschloss. Seit 1933 waren sie zunehmend
wirtschaftlich ausgegrenzt, und als Schutzschild für jüdische
Elternteile oder Verwandte gerieten sie oft in bedrohliche
Situationen. In Ausnahmefällen wurden auch sie zusammen mit den in
der rassistischen Nomenklatur der Nazis als »Volljuden«
klassifizierten Menschen ermordet. Christen jüdischer Herkunft
stellten mehr als 80 Prozent der Verfolgten teiljüdischer Herkunft,
sie wurden auch wie Angehörige der jüdischen Gemeinden verfolgt.
Sich unauffällig zu verhalten und die jüdische Herkunft möglichst
verborgen zu halten, konnte daher unter Umständen
überlebensnotwendig sein. Dass dies oftmals Konsequenzen ebenfalls
für die nachfolgenden Generationen hat, belegen vor allem die
Berichte über und von Betroffenen der zweiten und dritten
Generation. So wurde in den Familien über die Erlebnisse und
Erfahrungen im Nationalsozialismus und auch über die (teil)jüdische
Identität teilweise jahrzehntelang geschwiegen. Bis heute verspüren
einige ein unausgesprochenes Verbot, über diese Dinge zu sprechen.
Für die Kinder und Enkelkinder der Betroffenen ist die Suche nach
einer Identität ein oft jahrelanger Prozess, ein langsames
Herantasten an die Familiengeschichte. Die verschiedenen Aspekte
der Identitätsproblematik fassen Gensch und Grabowsky als
»Leitmotiv des spannungshaften und widerstreitenden Verhältnisses
von (oft fragiler) Selbstzuschreibung und
fixierend-stigmatisierender Fremdzuschreibung« (S. 10) zusammen.
Die Betroffenen selbst beschreiben es als Gefühl sich »zwischen den
Stühlen« zu befinden und »immer etwas fremd« zu sein. (S. 9)
»Der halbe Stern« versammelt höchst aufschlussreiche und
beachtenswerte Beiträge, die ihrem Anspruch, einen disziplinen- und
generationenübergreifenden Überblick über das komplexe und
vielschichtige Thema der Verfolgungsgeschichte und
Identitätsproblematik der Menschen mit teiljüdischer Herkunft zu
geben, absolut gerecht werden. Das Buch enthält außerdem eine
äußerst sehenswerte DVD mit einem moderierten Gespräch mit fünf
Zeitzeugen.
http://www.wla-online.de