Rezension zu Die Scham, das Selbst und der Andere

Publik-Forum, kritisch - christlich - unabhängig, Oberursel, Ausgabe 4/2011

Rezension von Dr. Norbert Copray

Scham, das verkannte Gefühl

Im Wechselspiel von Scham und Schamlosigkeit liegt ein Geheimnis des Menschen verborgen

Wenn sehr vermögende Ex Manager Hartz IV Empfänger als »Wohlstandsmüll« bezeichnen, hält der Psychologieprofessor Wolfgang Hantel Quitmann diese Menschenverachtung für schamlos. Genauso, wenn der ehemalige Vorstandschef der Hypo Real Estate nach seiner fristlosen Kündigung seinen bisherigen Konzern auf 500.000 Euro pro Jahr bis zum Lebensende verklagt, obwohl er es ist, der den Kollaps der Banken zu verantworten hat. Schamlosigkeit sieht Autor Wolfgang Hantel Quitmann auch am Werk, wenn »sich ganze Fernsehshows und Magazine der Aufgabe widmen, Privates, Geheimes und Intimes schonungslos an die Öffentlichkeit zu bringen«.

Hantel Quitmann erklärt in seinem Buch »Schamlos!« den Mangel und den Verlust der Scham sowie die Folgen. Dabei sieht er wie der Philosoph Platon »die Scham als Fähigkeit«, den anderen und sich durch Mitgefühl und Respekt in Ehren zu halten.

Ähnlich sieht der Kulturjournalist Till Briegleb »die Würde der Scham als Quelle von Glück, Erkenntnis und Kultur« an. Wobei die Scham zum kultivierten Umgang miteinander ebenso beiträgt, wie die »Rebellion gegen Schambarrieren« erst zu den größten Kulturleistungen führt.

Der literarisch hochwertige Essay »Die diskrete Scham« von Briegleb zeigt gerade die Dialektik der Scham mit der Schamlosigkeit, ohne die Scham gar nicht funktioniert: Das System ist nämlich »gerade darauf aufgebaut, dass Menschen unfreiwillig etwas Peinliches von ihrem Inneren zeigen. Etwas so Peinliches, dass es den Zuschauern zur Schadenfreude dient. Dieser Mechanismus würde aber überhaupt nicht funktionieren, wenn unsere Gesellschaft nicht nach wie vor ein ausgeprägtes Schamempfinden besäße«. Briegleb nennt die Scham deshalb einen »Alarm des Glücks«. Dieses Glück nämlich das eigene oder das fremde steht auf dem Spiel, wenn die Menschenwürde verletzt wird.

Der Sozialwissenschaftler und Erwachsenenbildner Stephan Marks nennt die Scham zugleich eine »tabuisierte Emotion« und den wichtigsten sozialen Affekt. Sie wird einerseits im eigenen Denken möglichst auf Abstand gehalten.

Andererseits ist die Scham überall und bestimmt das Verhalten von Menschen stärker als viele andere Gefühle.

Umfassend beschreibt und analysiert Marks die Scham mit ihren vielfältigen Erscheinungsformen in seinem zuerst erschienenen Buch »Scham«. Spezifisch greift er in »Die Würde des Menschen« den Zusammenhang zwischen Beschämung, Demütigung und Entwürdigung sowie Anerkennung, Respekt und Integrität auf. Im zweiten Buch findet sich auch eine gute Zusammenfassung des ersten. Er verdeutlicht angesichts der deutschen Geschichte, wie schwierig und anspruchsvoll die »Wege zur Menschenwürde« sind in einem Land, das gebaut ist »aus Schutt und Scham«.

Umso wichtiger die Anleitung zum Umgang mit Scham und zu einem würdigenden Miteinander vor allem auch in Schule und Fortbildung. Hier liefert der Sammelband von Alfred Schäfer und Christiane Thompson pädagogisches Reflexionsmaterial. Im Zentrum steht das Wechselverhältnis von Scham und Souveränität. So besteht die pädagogische Kunst darin, zur Souveränität zu erziehen und sich zugleich der Illusion völliger Souveränität bewusst zu bleiben, was das Schamgefühl anzeigt.

Tiefgreifend und umfassend wird der Sachverhalt durch die fulminante Arbeit von Jens L. Tiedemann erörtert. Anhand der »intersubjektiven Natur der Scham« kann Tiedemann zeigen, dass das Unbewusste nicht im Menschen, sondern in den Beziehungen miteinander angesiedelt ist. Er treibt so die Theorie einer intersubjektiven Psychoanalyse weiter voran, die auch bei Giorgio Agambens Sammelband unausgesprochen Pate steht.

Der italienische Philosoph Agamben analysiert in den Anfängen der jüdischen und christlichen Religion »die Sehnsucht nach einer Nacktheit ohne Scham«, um nackt sein zu können, ohne rot zu werden. Was nur gelänge, wenn man dem nackten Körper sein Geheimnis ließe, was zwar durch Kleidung, jenseits dessen aber durch einen gnadenvollen, würdigenden Blick gelänge. Eben in der Art, wie Gott anschaut. Diese Art zu schauen ist nicht schamlos: Denn Gott sieht die Schönheit im nackten Körper verhüllt.

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