Rezension zu Das Vermächtnis annehmen
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Rezension von Renate Franke
Die Verarbeitung der Vergangenheit
Dem »Geheimnis der Erlösung« durch Erinnerung näher zu kommen ist
ein prozesshaftes und vielschichtiges Geschehen. Doch: Was heißt
»Erlösung«?
Wenn ich Brigitta Huhnke und Björn Krondorfer, die Herausgeber des
hier vorgestellten Buches, verstehe, kann es erlösend sein, ein
Vermächtnis anzunehmen, die gelebte Geschichte unserer Vorfahren,
die auf vielfältige Art und Weise tradiert wird und die in jedem
Falle Wirkungen zeigt; zumal, wenn die Geschichte nicht einfach
ist, wenn Eltern und Großeltern in schwierigen Zeiten gelebt haben,
Täter, Mitläufer, Opfer und Überlebende des Naziregimes, des
imperialistischen Krieges oder des Holocaust waren. Bewusstwerden
und Bewusstsein können erlösend und verändernd wirken, den
traumatischen und destruktiven Wiederholungen Widerstand
entgegensetzen und heilsamen Entwicklungen Vorschub leisten.
Brigitte Huhnke und Björn Krondorfer haben sich selbst auf ihren
individuellen Aneignungsprozess eingelassen und kommunizieren und
gestalten ihn auf verschiedene Weisen. Sie zeigen sich damit nicht
nur als Herausgeber, sondern auch als Autoren und Wissenschaftler,
die es sich zur Aufgabe gemacht haben, die mögliche und
tatsächliche Aneignung eines schwerwiegenden Vermächtnisses
exemplarisch zu dokumentieren.
In Form eines Dialogs leiten Huhnke und Krondorfer ihre
Fragestellung, ihre Selbsterfahrung sowie die Beiträge von zehn
weiteren Autorinnen und Autoren ein und zeigen die
unterschiedlichen Möglichkeiten, Erinnerung zu kultivieren. Das
Besondere, das bisher wenig Beachtung gefunden hat, ist in diesem
Buch die Tatsache, dass die Beteiligten auch die Orte reflektieren,
die mit dem Prozess der Erinnerung und der Erinnernden verbunden
sind. Dazu gehören in der Konsequenz unterschiedliche kulturelle
Kontexte.
Kulturen entstehen, entwickeln und verändern sich im Verlauf der
Geschichte, haben viele verschiedene Facetten, die sie prägen. Dazu
gehört auch die Religionsgeschichte. So unterscheiden sich die
jüdische und die christliche Erinnerungskultur. Die Erinnerung an
die Leidensgeschichte des jüdischen Volkes hat auch in ihrer
Kultivierung eine lange Geschichte. Im Christentum spielen
Versöhnung und Vergebung eine große Rolle; akkulturiert dienen sie
dem Verdrängen und Ausweichen.
Erinnerung findet in der Dialektik von Subjekt und Objekt bzw.
Gesellschaft statt. Rekonstruktion und Gedächtnis hängen sowohl
voneinander als auch von der Verifizierung oder Falsifizierung »von
außen« ab.
»Das Vermächtnis annehmen, bedeutet auch, die Täter des Holocaust
sichtbar zu machen. Die Verantwortung für das Vermächtnis wird bald
ausschließlich bei den Nachfolgegenerationen liegen. Welche
Vorkehrungen haben beide Seiten dafür getroffen? Nicht zuletzt
dokumentieren unsere Beiträge, in welch vielfältiger Weise dies
möglich sein kann.« (Huhnke)
Die Beiträge sind in vier Gruppen eingeteilt: Erinnerungskultur in
den USA, in Deutschland (nationaler Kontext), im regionalen und im
(Familien-) biographischen Kontext. Ich referiere aus jeder Gruppe
eine Autorin bzw. einen Autor. Dabei ist jeder Beitrag lesenswert
und gibt wertvolle Anstöße für Leserinnen und Leser, sich auf den
eigenen Erinnerungsprozess einzulassen.
Allen voran zum Geleit schreibt Hildegard Hamm-Brücher: »Das
Geschehen Auschwitz überlagert all mein politisches Denken und
Handeln und begründet – oft unbewusst – eine Trauer, die sich nicht
verdrängen lässt. Dieser Zusammenhang ist mir heute klarer als vor
fünfzig Jahren: Das dunkelste Kapitel unserer Geschichte ist nur
durch trauerndes Erinnern, das heißt im kongruenten Denken und
Handeln verkraftbar. Die Jahrtausende alte jüdische Weisheit, dass
Erinnerung das Geheimnis befreiender Entlastung ist, Vergessen
jedoch das Exil verlängert, bewahrheitet sich im Umgang mit dieser
unserer schwersten Erblast.«
James E. Young schreibt über die »wechselnden
Erinnerungslandschaften« in den USA. Er diskutiert die
verschiedenen Formen der Holocaust-Erinnerung: Tagebücher,
Chroniken, Erzählungen, Bücher, Filme, Video-Aufzeichnungen. Auch
er betont die Tradition des Erinnerns, des Erzählens, Lesens und
Schreibens in der jüdischen Kultur. Öffentliche Gedenkstätten
bieten dem Erinnern ebenfalls Raum, Form und Einfluss. »Je nachdem,
wo sich diese Gedenkstätten befinden und von wem sie gestaltet
wurden, rufen diese Orte in unterschiedlicher Lautstärke die
Erinnerung an die Vergangenheit wach, entsprechend der Vielfalt
nationaler Mythen, Ideale und politischer Bedürfnisse.« Schwer tun
sich die Nationen, an die Opfer eigener Verbrechen zu erinnern; so
Deutschland an den Holocaust. Das gelingt in den USA
unproblematischer. Aber wo sind da die nationalen Denkmäler für den
Genozid an den amerikanischen Indianern? Wo für die Millionen
versklavter und ermordeter Afrikaner? Young stellt auch fest, dass
amerikanische Denkmäler eher an den Idealen ihrer Entstehung
orientiert sind als an der Geschichte, wie es in Deutschland und
Polen z.B. an Orten der Lager oder zerstörten Synagogen der Fall
ist. »Die Kunst der Erinnerung bleibt solange unvollständig und
eine leere Übung, bis wir, die wir des Holocaust gedenken, das
gegenwärtige Leiden in der Welt zur erinnerten Vergangenheit in
Beziehung setzen.«
Als Beispiel für die Auseinandersetzung im nationalen Kontext führt
Brigitta Huhnke sowohl den wissenschaftlichen Stand deutscher
Erinnerungskultur als auch damit konkret verbunden ihren eigenen
Prozess bei der Annahme des Familien-Vermächtnisses an. Ihrer
Meinung nach müsste »eine funktionierende Erinnerungs- bzw.
Gedächtniskultur in der deutschen Gesellschaft (...) Lebensläufen
und Taten von Vollstreckern und MitläuferInnen Konturen
verschaffen. Die Verantwortlichen aus ihrer Anonymität zu reißen,
hieße auch, die Individualität der Opfer wenigstens im Gedenken zu
respektieren. Vordergründiges Verweilen bei den Opfern, das
Wahrnehmen des Holocaust lediglich als Trauma der Anderen (...)
überdeckt nur die mangelnde Bereitschaft, auf die
Vernichtungsaktivitäten der eigenen Familiengeschichte zu blicken
(...)«. Die »Leere im leeren Raum der Erinnerungen« kann der
Kontakt zur eigenen Lebens- und Familiengeschichte füllen. Sehr
konkret zeigt Huhnke, wie dieser Kontakt aussehen kann, und zwar
anhand des eigenen Beispiels wie an Beispielen aus der Literatur
(Dörte von Westernhagen, Bernward Vesper, Christoph Meckel u.a.).
Sie weist auch darauf hin, dass in der Psychotherapie erst jetzt
und sehr zögerlich Leiden und Krankheit auch als Spätfolgen
transgenerationeller Schuld bzw. Traumatisierungen in Kriegs- und
NS-Zeit gewertet werden. »Bisher wagen sich nur wenige auf Reisen
in die Vergangenheit der Familiengeschichte. (...) Ist es die
Angst, Vater, Onkel und/oder Großvater unter der geliehenen
Identität der deutschen Nachfolgestaaten als Kriminellen, als
Mörder zu finden und damit unwiderruflich die Bestätigung für
längst vorhandenes, aber immer wieder verdrängtes Wissen zu
bekommen? Ist es die Angst, insgesamt gefühlsmäßig in eine Art
Haltlosigkeit zu verfallen, wenn wir uns noch einmal die paranoiden
Welten, die als Kind erlebte Machtlosigkeit vergegenwärtigen? All
das geschieht in der Tat, mehr oder weniger intensiv erfolgen
Einbrüche. Es ist erneut erlebte Schutzlosigkeit, die schmerzt.
Auch gesellschaftlich stehen wir zunächst vor einem
Scherbenhaufen.«
Als Beispiel für Erinnern im regionalen Kontext sei Kirsten
Serup-Bilfeldt mit »Auf den Spuren eines Kindermordes in Köln«
angeführt. Die Inschrift eines Grabsteines auf einem alten
jüdischen Friedhof veranlasste die Autorin, ein Leben zu
rekonstruieren. Warum das achtjährige Kind Hans Abraham Ochs
sterben musste – diese Frage wurde zum Fokus ihrer Nachforschungen
mit z.T. erschütternden Erlebnissen. Sie muss auch feststellen,
dass »Gedenken zur Farce (wird), wenn denen, die gedenken, die
innere Beziehung zu denen, derer sie gedenken, fehlt«.
Durch Archivforschung spürt Katharina von Kellenbach den Brüchen in
Familienlegenden nach, auch in ihrer eigenen, die die Jahre
1933–1945 beschönigen. Sehr eindringlich schildert sie, wie sie den
»Schleier des Vergessens« zerriss und in zäher Kleinarbeit und
fortwährender Überwindung innerer Widerstände die Schattenseiten
der Familienvergangenheit aufdeckt. Sie spricht außerdem mit
Opfern, versucht es mit Tätern, mit Zeitzeugen, sucht die Stadt
Pinsk auf, wo u.a. auf Befehl ihres Verwandten Massentötungen
stattgefunden haben. Ihr wird klar, dass es in ihrer wie in den
meisten Familien einfacher ist, die Beteiligung an Judenmorden zu
leugnen, als die Beziehungen innerhalb der Familie zu gefährden.
Aber genau dadurch bleibt Antisemitismus virulent.
Zur Erinnerung gehört das Konzept der Zeugenschaft: Dem Zeugnis der
Opfer soll das Zeugnis der TäterInnen hinzugefügt werden. »Als ihre
Nachkommen sind wir gefordert, ihr Schweigen zu brechen, ihre
»Untaten« (...) aktiv zu erforschen und zu bezeugen. Damit leisten
wir einen Beitrag zu einer Erinnerungsgemeinschaft, in der eine
Annäherung von Juden und Deutschen, Opfer- und Täterperspektiven in
der Zukunft möglich wird.«
So berichtet dann auch abschließend Björn Krondorfer von einem
Begegnungsprojekt, das er mit anderen zusammen leitet:
»Interkulturelle Begegnungsarbeit mit (familien-) biographischem
Ansatz kann verhindern, dass kulturspezifische Erinnerungsformen
neue Missverständnisse oder gar Feinseligkeiten verursachen. (...)
In Begegnungsprogrammen kann die dritte Generation versuchen,
Trennungen zu überbrücken. Ziel dabei ist nicht, sich auf eine
gültige Erinnerungsform zu einigen, sondern in der Tolerierung von
Differenzen nach Gemeinsamkeiten zu suchen. Darin liegt vielleicht
eine Zukunft, die gemeinsam gestaltet werden kann, ohne die
traumatischen Geheimnisse der Vergangenheit verdrängen zu
müssen.«
Dieser Sammelband ist ein wichtiger Beitrag zu unterschiedlichsten
Verarbeitungs- und Bewältigungsmöglichkeiten. Zahlreiche Leserinnen
und Leser seien ihm gewünscht, um Prozesse anzustoßen, die uns als
Menschen mit Vergangenheit und Zukunft weiterbringen können.
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