Rezension zu ADHS

Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 2/2011

Rezension von Anton Schlittmaier

ADHS wird immer wieder gerne als Stoffwechselstörung des Gehirns angesehen. Gerade im Alltagsbewusstsein sind derartige Mythen gängig. Die Gefahr, dass die Frage nach der richtigen Erklärung zur Ideologie missrät, ist allemal groß. Neraal und Wildermuth haben nun zusammen mit Fachleuten verschiedener Provenienz auf unprätentiöse Weise durch Theoriereflexion, Fallbeispiele, allgemeinen Praxisanweisungen sowie einer Praxisstudie die Evidenz eines Zuganges aufgezeigt, der die aufgetretenen Störungen aus der Entwicklungsgeschichte der Kinder begreift. Das Buch ist in drei große Abschnitte gegliedert:

Im ersten Teil werden Theorieansätze dargelegt, wobei diese auch die Grundlage für Interventionen bilden. Den Einstieg nimmt Neraal vor, der insbesondere das subjektive Erleben thematisiert. Gerade das in rein naturwissenschaftlicher Sicht Defizitäre, das subjektive Erleben des Forschers oder Therapeuten, wird stark gemacht. Das eigene Unwohlsein angesichts eines ADHS Kindes eröffnet Zugänge zur Problematik, die objektivistischen Sichtweisen verschlossen blieben. Im Weiteren werden Theorieansätze genauer dargelegt und einer Diskussion zugeführt. Dabei kommen entwicklungspsychologische Aspekte, die Bindungstheorie, ADHS als Regulationsstörung und Aspekte der Familiendynamik zur Sprache. Hier handelt es sich um verschiedene Perspektiven auf eine Wirklichkeit, wobei letztere nie definit ist, sondern interpretationsoffen. Was ADHS nun eigentlich ist, lässt sich nur im Plural sagen! Und obendrein: Die Praxis, die einer bestimmten Erklärung folgt, ist immer Teil der Störung; wie Eltern oder Therapeuten das Symptom verstehen, schafft das Symptom mit. Von daher ist die Frage der Erklärung immer auch eine ethische Frage!

Der zentrale Teil des Buches enthält Fallbeispiele. Die verschiedenen theoretischen Zugangsweisen (Psychoanalyse, Familiendynamik usw.) werden hier mit Leben erfüllt und im klinischen Bereich erprobt. Alle Fallbeispiele basieren auf einer psychodynamischen Orientierung. Sie zeigen die Relevanz einer vielschichtigen Zugangsweise sowie darauf basierender Interventionen.

Der dritte Teil bündelt Ergebnisse der Fallstudien. In einer Praxeologie wird das Vorgehen bei der Intervention idealtypisch dargelegt. Dabei erfolgen auch sehr konkrete Hinweise wie die Aufforderung, dort zu beginnen, wo die Eltern stehen oder Nachdenklichkeit zuzulassen. Die das Buch abschließende Praxisstudie evaluiert Interventionsformen, zeigt Forschungsergebnisse auf, bewertet diese kritisch und legt weitergehende Überlegungen dar.

Sowohl der Praktiker wie der Wissenschaftler können hier die psycho- und familiendynamischen Zusammenhänge fast hautnah erfahren – besonders in den Fallstudien. Die Studien sind außerordentlich gründlich, aber auch verständlich geschrieben. Auch wenn nicht jede Schlussfolgerung aus empirischen Daten jeden immer vollkommen überzeugen wird, kann man sich nach dem Lesen des Bandes einem Verständnis, das auf die Psycho- und Familiendynamik zentriert, kaum mehr verschließen.

Insgesamt ein hoffnungsvolles Buch, das aufgrund seiner Materialfülle selbst den hartgesottensten Physikalisten zum Nachdenken bringen muss. Aber über Grundsatzdebatten hinausgehend ist das Buch aufgrund seiner Beispielfülle ein exzellentes Praxisbuch, das allen, die mit Kindern zu tun haben, helfen wird, diese besser zu verstehen, auch wenn sie bizarres, auf den ersten Blick völlig unbegreifliches Verhalten zeigen.

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