Rezension zu In Anerkennung der Differenz

www.agkb.de, Arbeitsgemeinschaft für katathymes Bildererleben und imaginative verfahren in der Psychotherapie (AGKB) eV.

Rezension von Dr. Barbara Hauler

In Anerkennung der Differenz

Anlässlich des 30-jährigen Jubiläums der ersten österreichischen Frauenberatungsstelle in Wien haben Mitarbeiterinnen von »Frauen beraten Frauen« und des Wiener Instituts für frauenspezifische Psychotherapie im renommierten Psychosozial-Verlag einen Sammelband veröffentlicht, der der Frage nachgeht, was heute unter feministischer Beratung und Psychotherapie zu verstehen ist. Herausgeberinnen sind Traude Ebermann, die sich seit Jahren für einen geschlechtersensiblen Ansatz in der Katathym Imaginativen Psychotherapie einsetzt, Julia Fritz, Karin Macke und Bettina Zehetner. Der Sammelband umfasst Beiträge zur Entwicklung, zum aktuellen Stand und zur Zukunft feministischer Beratung und Psychotherapie, zur weiblichen Identität im sozialen Zusammenhang und zur Beziehung von Frau zu Frau in Beratung und Psychotherapie. Er richtet sich an alle im psychosozialen Feld Tätigen als auch an interessierte Leserinnen und Leser.
»In Anerkennung der Differenz« meint zum einen die Notwendigkeit, die »Genderperspektive« in Theorie und Praxis von Therapie und Beratung einzubeziehen. Genderperspektive meint hier das Wissen um die Bedeutung von gesellschaftlich zugewiesenen Geschlechtsrollen und die Verschränkung von individueller Gestaltung und Selbstpositionierung als Frau oder Mann und sozialem Kontext. Zum anderen verweist der Titel jedoch auf die Bedeutung der Differenz und der Grenzen gerade auch in der Beziehung zwischen Klientin/Patientin und Beraterin/Therapeutin. Denn das Trennende und (innere) Fremde ist Voraussetzung dafür, dass Anziehung und Begehren einerseits und Aggression und »negative« Affekte andererseits in der Übertragung und Gegenübertragung überhaupt Raum gewinnen können.
Was ist nun unter feministischer Beratung und Psychotherapie zu verstehen? Im Rahmen der sog. »Zweiten Frauenbewegung« in den 1970er Jahren entwickelten sich »Ansichten darüber, was Frauen krank macht und was psychosoziale Gesundheit in einer von der Geschlechterdifferenz strukturierten Gesellschaft bedeutet. (… ) Symptome und Erkrankungen werden in ihrer Bedeutung an gesellschaftliche Positionen und Lebenslagen angebunden anstatt als persönliches Konfliktgeschehen interpretiert.« (Scheffler: 47f).Die feministische Grundhaltung der BeraterInnen und PsychotherapeutInnen ist also untrennbar mit Gesellschaftskritik verbunden, indem sie »individuelle Konflikte, Leidenszustände und Symptome von Frauen in Zusammenhang mit einschränkenden und widersprüchlichen Weiblichkeitszuschreibungen in der Gesellschaft bringt, hinterfragt und als Diskriminierung und Pathologisierung des Weiblichen thematisiert.« (Ebermann u. Zehetner: 10)
Der erste Teil des Sammelbands konzentriert sich auf feministische Beratung. In verschiedenen Beiträgen werden Wurzeln und Strömungen feministischer Beratung dargestellt und ihre Besonderheiten herausgearbeitet. Zentrales Ziel der »gendersensiblen« Arbeit ist »Empowerment«, d. h. die Befähigung zum »selbstbestimmten Umgang mit dem eigenen Leben und dem eigenen Körper« (Scheffler: 47), die Stärkung von Handlungsfähigkeit, die Entwicklung von Vertrauen in das eigene Potential, die eigenen Kompetenzen und Ressourcen und das Sichtbarmachen der Geschlechterdynamik in sozialen Problemlagen. Diese Aspekte werden an Fallvignetten verdeutlicht, von denen ich ein Beispiel herausgreife. Bettina Zehetner beschreibt in »Von der Abhängigkeit über die Ambivalenz zur Autonomie« (99-111) am Fall einer Klientin Trennungskonflikte und Trennungsschwierigkeiten. Diese können analytisch betrachtet als Ausdruck nicht angemessen gelöster innerer Konflikte um Autonomie und Abhängigkeit verstanden werden. Der frauenspezifische Blick bezieht dabei jedoch mit ein, dass »Mädchen lernen, ihren Wert als Person von der Qualität der Sorge um andere abhängig zu machen, und (…) ihre Identität auf der Fähigkeit (begründen), Beziehungen herzustellen und aufrecht zu halten… Emotionale Bindungen bilden somit auch für die erwachsene Frau die primäre Basis für das Urteil über den eigenen Selbstwert… Hier kann feministische Beratung ansetzen, destruktive innere Aufträge und Geschlechtsrollenmodelle bewusst machen (…) und gemeinsam alternative Perspektiven entwickeln« (Zehetner: 103f.). Ziel ist es also, durch die Verortung im konkreten sozialen Raum und durch Miteinbeziehen gesellschaftlicher Rollenzuweisungen ein emanzipatorisches Potential freizusetzen, das die Klientin befähigt, Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen.
Im zweiten Teil kommen Therapeutinnen unterschiedlicher Therapieschulen zu Wort und geben anhand von Fallvignetten Einblick in die Integration von feministischem Gedankengut und von »Genderkompetenz« (Großmaß: 65) in die jeweilige Therapiemethode. Wichtige Anregungen für die Berücksichtigung der Genderperspektive in den verschiedenen Therapieformen vermitteln folgende Kapitel:
- Brigitte Schigl: Frauenspezifische/Feministische Arbeit mit integrativer Gestalttherapie
- Traude Ebermann: Feminismus und KIP oder: Was wir von den Amazonen lernen können
- Anna Kollreuter: Weder Analytikerin noch Analysandin: Keine ist Herrin im eigenen Haus
- Sabine Kirschenhofer: Systemisch-feministische Paartherapie
- Marietta Winkler: Feminismus und Personenzentrierte Psychotherapie

Für Katathym Imaginative PsychotherapeutInnen besonders interessant dürften dabei die Beiträge von Traude Ebermann und Anna Kollreuter sein.
Traude Ebermann hinterfragt seit Jahren in verschiedenen Veröffentlichungen die traditionellen KIP-Motive auf »die Fest- und Fortschreibung einseitiger Geschlechtsrollen« (Ebermann: 149) und führte das Motiv »Muschel« für die Frau als Symbol ihrer genitalen Weiblichkeit ein. In ihrem Beitrag geht es darum, dass Frauen insbesondere dann »in Konflikte mit ihren Vorstellungen von Weiblichkeit geraten, sobald sie mit Aggression und ihrer Aggressivität in Berührung kommen« (Ebermann: 150). Traude Ebermann fordert dazu auf, das Potential aggressiver Übertragungen und anderer sog. Negativer Affekte wie Hass, Neid und Destruktivität in der Übertragungsbeziehung gerade auch zwischen Patientin und Therapeutin zu nutzen. Dies kann dadurch geschehen, dass die Therapeutin durch geeignete Motivvorgaben signalisiert, dass sie solche Triebimpulse und Gefühle aushalten kann. Als Motiv, das gleichermaßen Weiblichkeit und »eine ihr zugestandene Sinnlichkeit und Aggressivität verkörpert« (Ebermann: 158) schlägt sie, auf eine Anregung einer Seminarteilnehmerin, Frau Elfrun Delanoy, zurückgreifend, die »Amazone« vor, die der »Mythos von Solidargemeinschaft mit Frauen, selbstbestimmter Sexualität, Macht und Waffen« umgibt (Ebermann:159).In einem Fallbeispiel wird die Arbeit mit diesem Motiv illustriert, das bei der Träumerin lustvolle, wilde, selbstbehauptende und expansive Bilder auslöst. Auch mir erscheint es lohnend, dieses Motiv zu erproben, so wie ich in meiner Praxis auch immer wieder erlebe, dass der Einsatz des Motivs »Muschel« den Prozess der Aneignung der eigenen Weiblichkeit in Gang bringen und fördern kann.
Anna Kollreuter fokussiert in ihrem Beitrag auf das Tabu der homoerotischen und sexuellen Gefühle in der Mutter-Tochter-Beziehung bzw. der Beziehung zwischen Patientin und Therapeutin. Sie fragt danach, was es heiße, frauenspezifisch zu analysieren, und warnt vor Geschlechtervorurteilen wie z. B., dass eine Frau eine Frau besser verstehen könne. »Gleichgeschlechtlichkeit unter Frauen bietet jedoch nicht die geringste Garantie dafür, sich freier und besser mit Sexualität, Gewalt und Aggression auseinanderzusetzen. Im Gegenteil: Die »gleiche Geschichte« kann dann verhängnisvoll werden, wenn Analytikerin und Analysandin dasselbe ausklammern: Lust und Begehren!« (Kollreuter: 165) Voraussetzung dafür, dass Anziehung, Lust und Begehren Raum in der Übertragung und Gegenübertragung finden, ist das »Bewusstsein und damit das Aushalten des eigenen Fremden, Triebhaften« und das Zulassen von Differenz gerade auch in der Beziehung von Frau zu Frau.
Der Band wird abgerundet durch Gedichte von Elfriede Gerstl und eine feministisch-literarische Bestandsaufnahme der österreichischen Schriftstellerin Marlene Streeruwitz. Er ist für KIP-Therapeuten und –Therapeutinnen, die sich für die Gender-Thematik interessieren, sehr lesenswert und informativ. Denn in der KIP begegnen wir in den Imaginationen auch dem »Geschlechterimaginären«, der »zu kollektiver Bedeutung gelangte(n) geschlechtsbezogene(n) Vorstellungswelt jener Gesellschaft« (Pechriggl: 201), in deren Kontext wir arbeiten. Pechriggl beschreibt in ihrem Beitrag »Veränderliche Geschlechtsidentitäten« Erfahrungen in einer psychoanalytischen Ausbildungsgruppe, in denen sichtbar wird, wie wir bereits aus dem Anblick der Schuhe, die eine Person trägt, zu Urteilen über deren Geschlechtsidentität gelangen, in denen unsere oft vorbewussten inneren Bilder davon, was und wie ein Frau oder ein Mann sein hat, erkennbar werden. Das Wissen darum, dass wir einander – Frauen wie Männer – nicht frei von Geschlechts-Zuschreibungen wahrnehmen, ja, dass wir »uns nicht nicht geschlechtlich verhalten« können (»Doinggender«) (West/Zimmermann 1991; zit. Nach Scheffler: 45), sollte uns motivieren, uns mit dem gesellschaftlich-kulturellen Kontext psychischen Erlebens und Leidens auseinanderzusetzen.
Der Band »In Anerkennung der Differenz« gibt Einblick in aktuelle Themen feministischer Theorie und Praxis und verdeutlicht die Notwendigkeit, Gender-Aspekte in unsere psychodynamischen Hypothesenbildungen miteinzubeziehen. Ich wünsche ihm viele neugierige Leserinnen und Leser und eine breite Diskussion.

Dr. Barbara Hauler, Dozentin der Arbeitsgemeinschaft für Katathymes Bilderleben und imaginative Verfahren in der Psychotherapie (AGKB) e.V.

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