Rezension zu School-Shooting (PDF-E-Book)
Recht und Psychiatrie R & P Heft 1, 2011, 29. Jg.
Rezension von Frank Winter
In: Recht und Psychiatrie R & P Heft 1,2011, 29. Jg., S. 57 f.
Faust, Benjamin (2010): School-Shooting. Jugendliche Amokläufer
zwischen Anpassung und Exklusion. Gießen (Psychosozial-Verlag),
210 Seiten, € 22,90
Im Vorwort zu dieser Monografie schreibt der Hochschullehrer Rolf
Haubl, School-Shooting sei »die spektakulärste Form von Gewalt an
der Schule« und der »Inbegriff an Irrationalität«, sich äußernd als
»plötzlicher, unkontrollierbarer Einbruch unfassbarer Gewalt in
eine friedliebende Alltagswelt«, und meint, medial spektakulär
aufbereitet, suggerierten »Ordnungspolitiker«, dass Amok-Taten an
Schulen »zum Normalfall zu werden drohen« (9). Dass solche Taten
»in die Mitte der Gesellschaft« führen, die »vor allem strukturell
gewaltförmig ist« (10), zeigt der an einer Frankfurter Schule
beschäftigte Autor Benjamin Faust in seinem Buch auf. In
»monokausale[n] Erklärungsdebatten«(13) wie etwa der von Christian
Pfeiffer u.a. betriebenen »Dämonisierung von
›Killer-Computerspielen‹« (10) sieht er symbolisches Handeln.
Die empirische Datenlage zu Mehrfachtötungen an Schulen ist dünn,
Tötungsdelikte und Amoktaten an Schulen sind – auch weltweit
betrachtet – seltene Ereignisse, und die von Faust ausgewerteten 30
Fälle sind weder gewalt- noch schultypisch. Und natürlich ist der
Lehrerberuf nicht zum Risikoberuf geworden; mag der mediale Umgang
mit Tötungsdelikten an Schulen oder an Lehrkräften wie dem Mord an
einer Bremer Lehrerin im Dezember 2009 auch anderes suggerieren. In
einer Zeit zunehmender Hysterisierung selbst weniger gravierender
Konflikte und anhaltend aufgeladenen Debatten um Integration bewegt
sich Faust mit seinem Buch zwischen irrationalen Ängsten und teils
hilflos anmutenden Bewältigungsversuchen: Sein Buch ist in
einfacher Sprache gehalten, die sieben Kapitel sind überschaubar
und werden an ihren Enden zusammengefasst. Er beginnt in
»Bruchstücke«, Mehrfachtötungen an Schulen als School-Shooting zu
umfassen, schildert Phänomene und Folgen einzelner Taten, verweist
auf die sich »unweigerlich« stellende »Schuldfrage« (14) und
konstatiert, dass schon Versuche zu Beginn des letzten Jahrhunderts
erfolglos geblieben waren, solch unkontrolliertes und scheinbar
motivloses Töten (Amok) zu verstehen. Im zweiten Kapitel nimmt
Faust definitorische Abgrenzungsversuche vor, referiert Ergebnisse
von Lothar Adler (20ff), Monika Lübbertz (22 ff.) und reflektiert
Überlegungen von Frank Robertz (24 ff.). Im Kapitel
»Phänomenologie« (29 ff.) folgen Betrachtungen »aus soziologischer
Perspektive« (43 ff.). Die »psychologische[…] Sicht« (103 ff.) mit
devianz- und narzissmuss-theoretischen Überlegungen füllt Kapitel
fünf, ehe Faust mit »School-Shootings – Die Schattenseite der
Gesellschaft« endet. Literatur-, Quellennachweise und ein
chronologischer Aufriss der von Faust untersuchten Einzeltaten
runden das Buch ab.
Faust sucht Muster in den von ihm untersuchten Tatabläufen jener
School-Shooter, deren Lebensgeschichte und Fallbesonderheiten er
rekonstruiert und zu erfassen versucht hat. Immer im Bemühen, die
einzelnen Tatentwicklungen zu verstehen, interessiert er sich für
die narzisstische Vulnerabilität der Täter und die besonderen
Lebensumstände, unter denen sie sie erworben haben könnten. Er
diagnostiziert Rückzüge aus sozialen Kontakten, Entwicklungen zu
Sonderlingen, deren narzisstische Wut Entlastung suchte, und findet
Entwicklungen junger Menschen, die von Lehrkräften und Mitschülern
vermeintlich gekränkt und ausgeschlossen wurden und deren
kompensatorische Rache-Fantasien zunehmend nach Realisierung
drängten. Diese Realisierung ersehne im Akt der Tat »ultimativen
Triumph« und »grandiose[n] Abgang« (113). Die von Faust
untersuchten Täter – so befindet er – gingen »reflektiert« vor, sie
beschäftigten sich intensiv mit Tatabläufen ihrer Vorläufer und
hätten sich imaginiert mit diesen Vorläufern und deren
Sympathisanten zu einer Gruppe solcher verbunden, die auf hilflose
wie zynische Weise Männlichkeit und individuelle Gerechtigkeit zu
restituieren versuchten.
Erfurt, Meißen, Brannenburg, Freising, Emsdetten und Winnenden aus
Deutschland und weitere Beispiele aus den USA hat Faust akribisch
untersucht. Er ähnelt in seiner Vorgehensweise dabei den Tätern,
die sich mit Vorgängertätern intensiv befassen: Faust benennt sie
mit Namen, Vor- und Nachnamen, liefert Teil-Abschriften ihrer
»Abschiedsvideos« (64f), aus dem »Online-Tagebuch« (65f) oder
zitiert ihre Einträge in Internet-Foren. Er sucht nach
Gemeinsamkeiten, Erklärungen, Hinweisen oder Warnsignalen, wie es
wohl für uns alle in der Konfrontation mit Unerklärlichem und
Unvorstellbarem typisch ist. Dabei findet Faust »eine Vorliebe für
schlechtes Wetter« (66) als gemeinsames Merkmal oder »eine
Strategie, durch eigene Isolation und Rückzug die eigene Situation
zu verbessern« (65). Er diagnostiziert aus der »Vorliebe für
schwarze Trenchcoats« den »[S]tolz«, »dass man nicht mehr zur
Mehrheitsgesellschaft dazugehören möchte« (70f). Er entdeckt
»Erweckungserlebnis[se]« und »mystisches Erwachen aus der
Scheinwelt« (71) in den Selbstzeugnissen der Täter und muss doch
feststellen, dass er »die psychische Verfassung der Täter nicht
vollends erschließen« (141) kann. Trotz aller Anstrengung muss
Faust im Konjunktiv bleiben, wenn er resümiert, dass solche
Selbstzeugnisse »schlussendlich mehr zum Verständnis von Amokläufen
an Schulen beitragen [könnten], als jedes ferndiagnostisch
geschlossene psychiatrische Gutachten es vermochte« (115).
Vielleicht auch deshalb fällt die Lektüre dieses Buches nicht
leicht: Faust gewährt ausführliche Einblicke in die krude
Lebenswelt der zur Zeit ihrer Taten ja zumeist adoleszenten Täter,
die sich subjektiv von Schule, Freunden und Subkulturen, denen sie
sich anschließen wollten, ausgegrenzt fühlten. Sein soziologischer
Befund, Shool-Shooting sei »ein kleinstädtisches Phänomen«, und die
Interpretation, dass dort »[d]er Glaube an die Friedfertigkeit der
Gemeinde nämlich dazu führt, dass Warnsignale systematisch
ausgeblendet werden« (75), ist letztlich nicht hilfreich. Auch der
Verweis auf Durkheims Anomietheorie oder darauf, dass die Täter
sich am »untersten Ende der sozialen Pyramide befinden« (141),
hilft nicht zur Früherkennung: einige »versagen«, andere »fallen
negativ auf«. Faust findet »narzisstische Grundmuster« und »tiefe«
Depressionen oder »soziale Exklusion« (141).
Eine zuverlässige Diagnostik wird es im Vorfeld von Amok-Taten an
Schulen ebenso wenig geben wie Erklärungen solch unbeherrschbarer
Gewalt. Vielleicht muss man wie Benjamin Faust an einer Schule
beschäftigt sein, um dieses Buch mit demselben Engagement lesen zu
können, mit dem es geschrieben wurde. Vielleicht ist es aber auch
die universelle Verbindung des Faustischen mit dem Ewig-Bösen, die
Faust nach zwingenden Erklärungen suchen ließ, weil er sich
Mephisto nicht mehr entziehen konnte. Vielleicht fällt also die
Danksagung, die Benjamin Faust seinem Buch vorangestellt hat, so
lang aus, weil eine emotionale oder intellektuelle Bewältigung der
Gewalt, wie sie in School-Shooting-Taten zutage tritt, nicht
individuell, sondern nur in einer haltenden Gemeinschaft zu leisten
ist.
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