Rezension zu Tinnitus
Das Tinnitus-Forum 4/2010
Rezension von Dr. med. Helmut Schaaf
»Wer nicht fühlen kann, muss hören«, so könnte man die Botschaft
Tillmanns beschreiben. Dabei ist die Wahrnehmung eines Tinnitus
primär kein psychologisches Problem, wohl aber das Leiden am
Tinnitus.
Nach Tillmanns als Patientenratgeber gedachtem Buch »Ich, das
Geräusch« liegt nun die ausführliche, wissenschaftlich
ausgerichtete und als Doktorarbeit eingereichte Version zur
Verknüpfung der individuellen Bedeutung des Tinnitus-Leidens mit
den gesellschaftlichen Bedingungen vor. Dabei setzt Tillmann einen
deutlichen Kontrapunkt zu den überwiegend HNO-ärztlich oder
verhaltenstherapeutisch gehaltenen Veröffentlichungen und
Ratgebern.
Durch diese erste psychoanalytische Studie – so R. Vogt in seinem
Vorwort – »wird das Symptom aus der bizarren Entfremdung des
unerklärlich Somatischen rückübersetzt in die verstehbare
unbewusste Bedeutungsvielfalt seiner psychosomatischen Ursprünge
und Ausdrucksformen«, was voraussetzt, dass es zuvor eine
Übersetzung des Seelischen in das Körperliche gegeben haben
muss.
Tillmann beschreibt in seinem Vorwort eindrucksvoll, was ihn zu den
Veröffentlichungen gebracht hat: So schildert er spürbar seine
engagierten, lange oft ohnmächtig erlebten, aber ihn immer wieder
fesselnden therapeutischen Begegnungen mit Tinnitus-Patienten. Da
er die gängigen Vorgehensweisen bei seinen Patienten als
unzureichend erlebte, ließ sich der ausgebildete Psychoanalytiker
in der Therapie und in der Verfolgung des Themas vor allen Dingen
durch die Wahrnehmung seiner in der Patientenarbeit ausgelösten
Gefühle (Gegenübertragung) leiten, um sich so zunehmend einen
eigenen Zugang erarbeiten zu können.
Als Fragen kamen auf: Verweist die Tinnitus-Symptomatik auf einen
entgleisten präverbalen Dialog? Ermöglicht das hartnäckig
resistente Symptom einen Zugang zum »Unerhörten«? Tillmann vermutet
nun zugespitzt, dass im Symptom Tinnitus auf der gesellschaftlichen
Ebene Konflikte »zum Klingeln« kommen können. In der symbolischen
Körpersprache zeige sich der ohnmächtig verzweifelte Protest gegen
eine zunehmende Individualisierung, kompromisshart ausgedrückt
durch ein quälendes und zugleich verbindendes Symptom in
präsymbolischer Sprache. So könne das Brummen die Angst vor
Entwertung und Überflüssigsein in somatisierter Form in einen
vorsprachlichen und averbalen Ausdruck bringen.
Das Symptom entspreche einem zunehmenden Bedürfnis nach Intimität,
das mittels einer Not-Abschaltung bzw. einer Not-Verstopfung
gesucht werde. Dabei sei die Wahl dieses verborgenen, versteckten
Ortes, des Ohres, eine kreative, unbewusste Wahl angesichts einer
»grenzenlosen Kultur ohne Scham und Respekt«. Tillmann diskutiert
weiter, ob »das Leben im Ohr« ein Ersatz werden kann für ein
emotionales Leben, das auf verschiedenen Ebenen Bedeutung erhalten
kann.
In der konkreten Therapie geht es – wie bei den HNO-ärztlichen und
verhaltenstherapeutischen Ansätzen – zunächst darum, dem Symptom
seine Bedrohlichkeit und darüber hinaus auch die psychisch erlebte
Fremdheit zu nehmen, wenn im therapeutischen Prozess »Schwankungen
und Rhythmen der Symptomatik bewusst gemacht und nachvollziehbar
werden«.
So diskutiert er sowohl Freuds erste Vermutungen wie die
Überlegungen seines Leibarztes Max Schurs zur Möglichkeit der
Somatisierung von psychischen Prozessen und deren Resomatisierung
bei seelischer Not und die Ansätze französischen psychosomatischen
Schule um Lacan.
Beeindruckend ausführlich berichtet Tillmann dann einen sich über
viele Jahre erstreckenden psychoanalytischen Prozess, insbesondere
in der Begegnung des Therapeuten mit dem Patienten. Tillmann
entschlüsselt mit dem Patienten, was sich psychodynamisch und
gesellschaftlich hinter der Symptomatik verbergen kann.
Hilfreich für den Leser ist eine Grundvertrautheit mit der von
Tillmann benutzten analytischen Denk- und Ausdrucksweise, um den
Autor so verstehen zu können, wie er es wohl gemeint hat.
Wer sich darauf einlassen mag, kann nutzbringend für seine
Patienten, zumindest im Hinterkopf, nach dem oft für den Patienten
und oft auch für den Therapeuten unbewussten Sinn des Leidens
fragen. Dann kann er mit ihm erarbeiten, wie eine Brücke zu dem
möglicherweise eingekapselten emotionalen Erleben im Unbewussten
hergestellt werden kann, was dann genutzt werden kann, um nicht
mehr den Tinnitus, sondern das eigentliche Thema mit den verfügbar
gemachten seelischen Ressourcen anzugehen.
Dazu ist allerdings kein Weghören im Sinne der Habituation, sondern
ein Hinhören und Sich-Hinwenden notwendig, um die persönlichen
Bedeutungen der Erkrankung, die im körperlichen und im Tinnitus
eingeschlossen sind, zur Sprache kommen zu lassen.
Insgesamt handelt es sich um ein pointiertes Buch, das in der
Vielzahl der Tinnitus-Literatur eine exponierte Stellung einnimmt
und hier den Akzent sehr deutlich auf den psychoanalytischen Aspekt
legt.
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