Rezension zu »Ich sehe was, was du nicht siehst«
Psychologie heute
Rezension von Alexander Kluy
Im Dunkeln sieht man mehr
Zwei Bücher widmen sich der Praxis psychoanalytischer
Filminterpretation
»So weit ich zurückdenken kann«, schrieb der Filmregisseur Roman
Polanski in seiner Autobiografie, »ist in meinem Leben die Grenze
zwischen Fantasie und Wirklichkeit hoffnungslos verwischt gewesen.
Ich habe lange gebraucht, um zu erkennen, dass gerade dies der
Schlüssel zu meinem Dasein ist. Er hat mir mehr als genug
Enttäuschungen, Leiden und Katastrophen gebracht. Er hat mir aber
auch Türen geöffnet, die sonst für immer verschlossen geblieben
wären.« Diese Selbstbeobachtung unterstreicht, wie naheliegend es
ist, dass sich die Psychoanalyse der Analyse von Filmen widmet.
Schließlich ist diese Form kreativer Arbeit spezifisch modern.
Der englische Filmemacher Peter Greenaway, der viele visuell
kunstvoll verrätselte Filme gedreht hat, meinte einmal apodiktisch,
der Film sei die einzige echte kulturelle Innovation von Rang, die
das 20. Jahrhundert hervorgebracht habe. Dabei ließ er allerdings
Jazz und Rockmusik unerwähnt. Was der Kinofilm im Gegensatz zu den
beiden Musikrichtungen, die unterschiedliche Alterskohorten
ansprechen, immer geleistet hat, fasst Rainer Holm Hadulla in
seinem Buch »Leidenschaft: Goethes Weg zur Kreativität. Eine
Psychobiographie« bündig zusammen: Er kreiert kollektive Fantasien
und Werte. Filme »schaffen«, so Holm Hadulla, »durch kathartische
Kommunikation im Guten wie im Schlechten eine gemeinschaftliche
Kultur«. Dank raffinierten Marketings ist diese inzwischen global,
sodass manche Schauspieler globale Ikonen sind und in bestimmten
Rollen zu Idolen, zu intersubjektiven Identifikationspersonen
wurden.
Schon Sigmund Freud schrieb 1919 in »Das Unheimliche« vom
»Überspringen seelischer Vorgänge von einer dieser Personen auf die
andere..., sodass der eine das Wissen, Fühlen und Erleben des
anderen mitbesitzt, die Identifizierung mit einer anderen Person,
sodass man an seinem Ich irre wird oder das fremde Ich an die
Stelle des eigenen versetzt, also Ich Verdoppelung, Ich Teilung,
Ich-Vertauschung«. Eine Beobachtung, die jeder Kinogänger an sich
selbst studieren kann und die ein psychoanalytisch ausgebildetes
Publikum noch bewusster wahrnimmt.
Zwei sich ergänzende Bücher versammeln nun praktische
psychologische Filminterpretationen. Sie bauen auf privaten
Veranstaltungsreihen auf. Aufschlussreich ist die Auswahl an
Filmen: Im Band, den Theo Piegler, bis zum Jahr 2009 Chefarzt für
Psychiatrie, herausgegeben hat und der auf Vorträgen in der
Akademie für Psychotherapie, Psychosomatik und Psychoanalyse
Hamburg beruht, werden von ihm und einem Halbdutzend anderer
Psychologen vor allem Mainstreamfilme behandelt: »Terminator« und
»Titanic« von James Cameron, Kenneth Branaghs »Mary Shelley/'s
Frankenstein«, Peter Jacksons »Herr der Ringe«, Brian De Palmas
»The Black Dahlia«, Stephen Daldrys »Billy Elliott« und Tom Tykwers
»Das Parfum«. Am schwächsten ist die Interpretation des auf einem
Text von Yasunari Kawabata basierenden Streifens »Das Haus der
schlafenden Schönen« von Vadim Glowna, vielleicht auch deshalb,
weil dieser Film kaum eines seiner Geheimnisse im Verborgenen
lässt. Dass die Familienzerfleischungsorgie »Das Fest« des
dänischen Dogmaregisseurs Thomas Vinterberg den Weg in den
Deutungsreigen gefunden hat, war zu erwarten. Auch dass Ingmar
Bergman abgehandelt würde. Lediglich zwei Komödien tauchen auf:
»Küss mich, Tiger« von Jan Ruzicka gedreht und heute fast
vergessen, sowie Billy Wilders »Das verflixte 7. Jahr«.
Bemerkenswert ist, dass das Zürcher psychoanalytische Filmprojekt
»Cinépassion« seinerseits nicht einen dezidiert komischen,
scheinbar leichten Streifen in seinen Auswahlband aufgenommen hat.
Bieten die Komödien eines Billy Wilder oder Ernst Lubitsch, die
»screwball comedies« von Preston Sturges oder Howard Hawks neben
visuellen Ambivalenzen ein Zuviel an intelligenten
sprachspielerischen Ambiguitäten, um damit adäquat umzugehen? Die
persönlichere Auswahl der Schweizer reicht von klassisch
psychopathologischen Filmen wie Viscontis »Die Hölle in uns« über
»Apocalypse Now Redux« und »Alien« bis zu wenig bis kaum bekannten
Arbeiten von Dominik Moll, Stéphane Brizé und Duncan Tucker.
Es ist nicht nur die emotionale Teilnahme und Affektaufladung, vor
allem in Genres wie dem Kriminal- oder Horrorfilm, die den Film dem
Traum so ähnlich macht. Weitere quasi dramaturgische Parallelen
drängen sich auf: die Auflösung von Raum, Zeit und realitätsnaher
Logik sowie Verdichtung, Verschiebung, Tempowechsel und die Rasanz
der Bildersequenzen. Erstaunlich häufig treffen die klugen Befunde
der psychoanalytischen Filmlektüren sich im Bezug auf Arbeiten und
Urteile Sigmund Freuds. So wird Bergmans »Fanny und Alexander« als
Ringen zwischen Über-Ich und Es gedeutet, in Branaghs
»Frankenstein« werden »polare, gegensätzliche Bewältigungsversuche
des gleichen erlittenen Traumas der Zurückweisung des wahren
Selbst« aufgespürt.
Besonders erhellend sind Klaus Augustins Gedanken über James
Camerons oscarprämierten Film »Titanic«. Hier erfährt der Leser,
wieso gerade diese keineswegs kitschfreie Liebestragödie ein
Welterfolg wurde. Augustins Aufsatz lässt dieses in der
psychologischen Personenzeichnung mehr als konventionelle
Untergangsdrama in anderem Licht erscheinen und vermag zugleich die
auf die Hauptdarsteller projizierten Sehnsüchte
individualpsychologisch zu erklären. »Ich möchte behaupten«, so
Augustin, »dass es für Rose [eine der beiden zentralen Charaktere]
angemessen oder auch notwendig ist, dass die Titanic untergeht,
steht sie doch als Symbol für den Untergang der Welt der Kindheit,
des eigenen Kleinseins, der Abhängigkeit von den Eltern, der
Abhängigkeit von Konventionen und Herkunft. Sie steht auch für den
Untergang von Größe und Macht (die ja auf die Eltern der frühen
Kindheit verweist). Die Überhöhung kehrt verdeckt wieder in einer
ebenso großen Idealisierung der Liebe.«
Keineswegs verkehrt ist, diese zwei Bücher neben der TV
Fernbedienung oder dem Kinoguide aufzubewahren. Schließlich wird
der russische Regisseur Andrei Tarkowski mit den Worten zitiert:
»Wie die Unendlichkeit des Bildes, so ist auch ein Film größer, als
er in Wirklichkeit ist, zumindest, wenn es denn ein wirklicher Film
ist. Und er enthält letztendlich immer mehr Gedanken und Ideen als
jene, die der Autor bewusst in den Film gesteckt hat.« Dieser
psychische Mehrwert ist hier nachzulesen.
Rezensent: Alexander Kluy
Redaktion: Katrin Brenner