Rezension zu Das Innere-Kinder-Retten

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Rezension von Dr. Michaela Schumacher

Gabriele Kahn: Das Innere-Kinder-Retten

Thema
Der therapeutische Ansatz des Innere-Kinder-Retten (IKR) wird vorgestellt, erläutert und begründet.

Autorin
Gabriele Kahn ist Psychotherapeutin in eigener Praxis. Ihre Schwerpunkte sind Komplextraumatisierung, Aus- und Weiterbildung für TraumatherapeutInnen und Supervision.

Aufbau
Das Buch besteht aus einer Einleitung, 5 Kapitel mit Unterkapiteln, 4 Anhängen und einem Literaturverzeichnis .
Kapitel 1 Komplextraumatisierung
Die Spezifika von Komplextraumatisierung, insbesondere der sexuellen Traumatisierung werden beschrieben und erläutert und drei Traumata unterschieden.
Trauma A die sexuelle Gewalt; Trauma B das »Verlassen- oder im Stich gelassen werden« von den nicht schützenden Verantwortlichen (Mittätern), Trauma C Delegation der Verantwortung und Schuldgefühle der nichtschützenden Verantwortlichen auf das Kind. Dieses hat dann sowohl mit TäterInnen- und MittaterInnen-Introjekte zu tun. Die vielschichtigen, komplexen Traumafolgen werden expliziert. Freezing, Flight und Fight sind die »erfolgreichen« Techniken der selbsttätigen unbewussten Traumaverarbeitung. Nichttraumatologen – aufgrund von Unkenntnis –missverstehen, dass. »Trotz der vielen negativen Langzeitfolgen( ist) Dissoziation zunächst der ökonomischste und hilfreichste Umgang mit den Traumata.« (28) ist. Chronische Traumatisierung führt zur »strukturellen Dissoziation« nach Janet in einen abgespaltenen »Anscheinend normalen Persönlichkeitsanteil APN« und einen »Emotionalen Persönlichkeitsanteil EP« , der die Traumata bewusst oder unbewusst in sich trägt und in vielfältiger Weise um seine Anerkennung und Integration »kämpft«, sich um die Verarbeitung und Bewältigung der Traumata bemüht. Initialisiert wird ein kräfteraubender Konflikt, der, die sinnvolle und konstruktive und, besonders ohne bzw. vor einer Therapie, auch äußerst mühevolle Arbeit der Selbstheilungskraft widerspiegelt. Die geäußerten Symtome geben Hinweise auf die verschiedenen abgespaltenen inneren Kindanteile – verharren im Alter der Abspaltung - im EP, die aus der Dissoziation raus wollen. Werden sie erkannt und ihnen Rettung zugesagt, beruhigen sie sich. Somit sind PTBS-Symptome auch Signale der optimalen, dosierten Schritte zur Heilung. Sie werden den drei Phasen – Freeze als Dissoziation; Flight als Vermeidung, Flucht und Schutzreaktion und Fight als Aggression gegen sich selbst und/oder Andere - zugeordnet.
Kapitel 2 Psychotherapie bei Komplextraumatisierten
Unterkapitel sind »Therapeutische Haltung und Prinzipien«, auf »Übertragung und Gegenübertragung«, auf die »Therapiephasen«, und die »Positive Dissoziation«.
Wenn der Erwachsene noch realisieren muss, dass das Trauma wirklich geschehen ist, um so Gewissheit zu erlangen und Mitgefühl für sich selbst zu entwickeln, ist eine oft schmerzvolle Exposition unverzichtbar. Höchste Aufmerksamkeit und Achtsamkeit gebührt dabei den »gefürchteten« Traumabrücken und die Gegenwart muss als sicher wahrnehmbar sein. Wie sich dadurch die drei wichtigsten Ebenen – Arbeitsbeziehung, Übertragungs-/Gegenübertragungsbeziehung und die menschlich-solidarische Beziehung – in der Traumatherapie von anderen Therapien unterscheidet, wird vorgestellt. Die drei Phasen der Therapieform »Innere-Kinder-Retten (IRK)« werden skizziert.
1. Phase 1: Vorbereitende Arbeit und Stabilisierung. Stichworte sind hier: Beziehungsaufbau, Vorgehen bestimmt die Klientin, keinerlei »muss«, Identifizierung schädlicher Einflüsse, Aufbau innerer Sicherheit, Aufbau des Maximums an Selbstfürsorge in allen Lebensbereichen, Totalabbruch von Täter und Mittäterkontakten. Erst der Kontaktabbruch \»erlaubt\« es den abgespaltenen inneren Kindern sich mit ihren Erinnerungen zu zeigen.
2. Phase 2: Wechsel von Traumaverarbeitung und Stabilisierung. Stichworte sind hier: kontinuierliche Balancierung von so viel Traumaverarbeitung wie nötig und möglich bei so wenig Destabilisierung wie möglich, kontinuierliche Vertiefung der Stabilisierung als Voraussetzung, um völlig abgespaltene Kindanteile wieder zu finden. Je mehr innere Kindanteile in Sicherheit gebracht sind, um so mehr positive und lebensbejahende Potentiale des Erwachsenen werden freigesetzt.
3. Phase 3 Integration und Neuorientierung. Stichworte sind hier: Gewöhnung und Nutzung der konstruktiven Potenziale, genießen lernen, integrierte Sexualität, innere Nachreifung, Partnerschaft auf Augenhöhe und Gegenseitigkeit und bei Heranwachsenden eine Wahlfamilie
Abschließend werden die heilsamen Möglichkeiten der Positiven Dissoziation kurz und eindrücklich skizziert und dargelegt, wie sie in der IKR genutzt und eingesetzt wird.
Kapitel 3 Vorbereitung für die Methode des Innere-Kinder-Rettens: Stabilisierung
Intention ist es in einem synchronen Prozess sowohl gezielt einen inneren emotionalen Abstand zu den Traumata herzustellen als auch die enorme Leistung beider Persönlichkeitsanteile – ANP und EP – zu würdigen und gleichzeitig diesen Abstand aufrecht zu erhalten bis die Traumatisierungen aufgelöst werden können.
Um die »ICH-Stärke« zu erhöhen und zu festigen, ist ein Mindestmaß an innerer und äußerer Sicherheit Voraussetzung.
Um das »innere Chaos« zu strukturieren, bedarf es des Wissens und Verstehens der bisherigen inneren Prozesse, d.h. erkennen, nachvollziehen und würdigen
• dass die Selbstheilungskraft unbewusst genial tätig war, um Traumatisierungen zu überleben (ANP) und bestdosiert zu verarbeiten (EP)
• dass alle gezeigten Reaktionen äußerst funktional und optimal dosiert – abgestimmt dile inneren und äußeren Gegebenheiten – wurden/werden.
Die strukturelle Dissoziation, die inneren Anteile (Ego-states) und der Prozess, äußere und innere Sicherheit herzustellen – d.h. Absicherung der Lebensgrundlage, Beendigung von Täter-und Mittäterkontakten –nicht schützende Erwachsene z.B. Mütter – , Schutz vor anderen Retraumatisierungen (Triggern) – müssen kennen gelernt, verstanden und eingesehen werden.
Um innere Sicherheit herzustellen und die traumatischen Anteile zu beruhigen werden installiert und eingerichtet
• der innere sichere Ort -kein realer, sondern ein imaginierter idealer Ort (eine \»Dauerkureinrichtung\«) und imaginierte ideale Helfer, die die traumatisierten Anteile beruhigen. Durch positive Dissoziation wird ein innerer Abstand zu den Traumata geschaffen verbunden mit der Zusage, sich so bald als möglich, um die traumatisierten Anteile zu kümmern.
• Containment-Tresore mit Filmmaterial, Albträume, Trennwände imaginierter Ort,
• Helferkonferenzen und /oder Arbeit mit Inneren Teams, d.h. hilfreiche innere Anteile - Funktionen, Fähigkeiten – werden personifizieren
• Techniken der Selbstberuhigung bei Triggerungen
• positives EMDR und Brainspotting unterstützt und fördert Ressourcen – insbesondere Selbstfürsorge, Selbstvertrauen, Vertrauen in die eigene Wahrnehmung, Abgrenzung Zuversicht, Selbsttreue
• Rettungsversprechen für die gefundenen Kindanteilen
Um die (Auto-) Aggression abzumildern, wird
• von Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen entlastet, indem ihr Ursprung identifiziert und nachvollziehbar gemacht wird: kindlich irrationales Schuldgefühl (2-4 Jahre), kindlich rationales Schuldgefühl, jugendliches oder erwachsenes berechtigtes, dennoch oft unangemessenes Schuldgefühl
• mit den Täterintrojekten täteridentifizierte und täterloyale Introjekte (MittäterInnen) gearbeitet
• der Umgang mit der berechtigten Wut eingeübt
• Selbstfürsorge und Abgrenzungsfähigkeit aufgebaut
Kapitel 4 Das Innere-Kinder-Retten (IRK)
Die therapeutische Arbeit erfolgt in sieben Schritten
1. Identifizierung der zu rettenden Kindanteile erfolgt über
• selbst erinnerte traumatisierende Ereignisse
• im Alltag unstimmige Gefühle oder Überreaktionen, die für den Erwachsenen problematisch /störend sind
• Abwehr bei Schritten zum Positiven ( innere Sicherheit, Selbstfürsorge)
• PTBS-Symptome hinter denen abgespaltene Kindanteile stecken
• selbsttätiges Melden von Kindanteilen nach der Rettung eines anderen, die erhöhte Sicherheit bewirkt ein aktives Sich-Zeigen
Es folgen Hinweise, wie Kindanteile ermutigt und wie das erste erinnerbare Kind jeder neuartigen Traumatisierung identifiziert werden können. Detaillierte Erfahrungen zu Arten von Innenkindern – sexuell schwer Traumatisierte, Wutkinder, sehr früh Betroffene, völllig Abgespaltete und erwachsenen Traumatisierten werden beschrieben.
2. Die modifizierte Beobachtermethode bei dissoziativer Amnesie. Eine positive Dissoziation durch eine innere Beobachterin ermöglicht eine emotionale Distanz. Die modifizierte Beobachtermethode enthält viele Absicherungen
• eine professionelle Beobachterin; ein ideal abgesicherter Arbeitsort, mehrere ideale, wachsame Helfer, Abstand, Schutzwand zum Traumafilm (quasi ein »Hochsicherheitsbereich«
• Die innere Beobachterin erstellt zunächst den Traumafilm und lagert ihn im Tresor ein. Erst nach Abbruch aller (Mit)-Täterkontakte erfolgt ein dosiertes Ansehen - von verschiedenen Helfern unterstützt - durch die Beobachterin von einem gesicherten Ort aus
3. Installieren des sicheren Kinderortes mit idealen Helfern für jedes zu rettende Kind mit einem eigenen Raum und Schlafplatz
4. Installieren des heilsamen Zwischenbereichs, eines ideal abgesicherter Bereich mit Sicherheitsräumen für die Kindanteile, die noch nicht eindeutig erkannt und noch nicht dauerhaft gerettet werden können, weil ihr Erleben noch nicht bewusst und benennbar ist. Auch im Zwischenbereich gibt es für jeden Kindanteil eigene unterstützende Helfer.
5. Wahl der idealen Helfer. Ideale Helfer sind immer Anteile der Selbstheilungskräfte des Erwachsenen selbst. Die innere Beobachterin denkt sich für jedes Kind auf dieses Kind abgestimmte, spezifische Helfer aus, kein Helfer wird geteilt.
6. Die Rettungsaktion. Ein identifiziertes Innenkind mit Rettungsversprechen sollte bald möglichst in Sicherheit gebracht werden. Die Rettung erfolgt in 5 Schritten
1. Der Erwachsene sucht seinen inneren sicheren Ort auf.
2. Er beauftragt die vorher bestimmten Helfer das Kind an den sicheren Kinderort zu holen.
3. Der/die Helfer retten das Kind. Die Erwachsene bleibt an ihrem sicheren Ort, um zu verhindern, dass Sie die Rettungsaktion beobachtet oder in sie eingreift.
4. Helfer informieren die Erwachsene über die erfolgreiche Rettung, damit diese das gerettet Kind kontaktieren
5. Abschluss der Rettungsaktion
7. Integration. Die Beschäftigung mit dem Kind ist möglich, da aufgrund der rettenden, positiven Dissoziation das Trauma nicht mehr unmittelbar berührt wird. Fühlt sich ein gerettetes Kind nicht wohl, fehlt ihm etwas, dann wird das durch die vorhandenen oder neu zu installierende Helfer korrigiert.
Die Trennung von sicherem Kinderort und sicherem Erwachsenenort muss lebenslänglich bleiben. Der Kinderort rückt zunehmend in den Hintergrund, da die Erwachsene ihre »befreiten« und neu entwickelten Potenziale im Alltag aktiv lebt, nutzt und genießt.
Abschließend werden folgende Probleme, die während der Rettung auftauchen können, besprochen.
• die ausgewogene, verträgliche Dosierung der Rettungsaktionen, da diese viel Energie \»verbrauchen\«,
• zeitlich und/oder inhaltlich sehr nahe beieinander liegende Kindanteile, die die Rettung des ersten behindern bzw. verhindern, weil ein zweites aktiviert wird,
• ein Kind will im Ablauf der Rettung nicht mitkommen,
• reale Geschwisterkinder sollen mit gerettet werden.
Kapitel 5 Wirkungsweisen
Benannt und erläutert werden folgende Wirkungsweisen:
• das IRK arbeitet mit und nicht gegen die Dissoziation, perfektioniert und konnotiert sie positiv
• das IRK arbeitet nicht mit der schmerzlichen Erinnerung sondern mit konstruktiven Vorstellungen und an der Auflösung von konkreten Traumatisierungen und ihren Folgen
• der Erwachsenen wird nur indirekt geholfen, die eigentliche Hilfe bekommen die traumatisierten Kindanteile
• das Erleben der Rettung im heutigen Erleben löst die dissoziativen Gefühlsblockaden von damals und schließt eine seit den Traumatisierungen offene Gestalt
• mehrere positive Dissoziationen greifen und wirken miteinander
• die Beauftragung der Helfer, das Kind eigenständig heraus zu holen, basiert auf Autosuggestion, die kein aktives bewusstes Eingreifen der Erwachsenen benötigt
• nach der Vergewisserung über die gelungene Rettung leistet das Unbewusste die weitere Assimilation des jeweiligen Kindanteils, denn die Helfer sind ja die eigene Selbstheilungskraft
• die Helfer entbinden von der Verantwortung für die Kinder
• das Verbleiben der Kinder am sicheren Ort ist keine erneute Abspaltung, sondern ein Containment
• die Rettung ist eine \»psychophysische Gehirnoperation\«, die die neuronale Verbindung zwischen Kindanteil und traumatischem Erleben kappt und eine Verbindung mit dem neuen neuronalen Netzwerk \»Sicherheit\\\« herstellt
• eine Entgiftung findet statt.
Diskussion
Der Autorin gelingt trotz der schwierigen Thematik eine bestechende, eindeutige Vorstellungen fördernde und zugleich fachlich fundierte Darstellung. Ihre Erfahrung, ihr hoher Respekt und ihre Wertschätzung für die Traumatisierten zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch und offenbart sowohl ihre würdigende Haltung als auch ihr Interventionsrepertoire. Ihre Ausführungen sind präzise, differenziert und begründet. An Stellen, die für Betroffene Gefährdungspotential beinhalten, benennt sie dieses. Sie »warnt« auch die Professionellen davor das IRK nach dem Lesen des Buches anzuwenden, da dieses kein Anwendungs- sondern ein Darstellungsbuch ist.
Fazit
Das Buch ist allen zu empfehlen, die mit von komplex Traumatisierten professionell arbeiten, aber auch denen, die mit diesen Menschen zusammen leben. Es fördert das Verstehen und eine positive Umdeutung der Symptome, was das Miteinander erleichtert. Betroffenen kann es Hoffnung auf »Heilung« machen, wenn sie beachten, dass das IRK professionell begleitet werden muss. Das Buch ist sehr empfehlenswert.

Rezensentin
Dr. Michaela Schumacher

Michaela Schumacher. Rezension vom 11.02.2011 zu: Gabriele Kahn: Das Innere-Kinder-Retten. Psychosozial-Verlag (Gießen) 2010. 210 Seiten. ISBN 978-3-8379-2085-7. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, http://www.socialnet.de/rezensionen/10603.php, Datum des Zugriffs 11.02.2011.

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