Rezension zu Knastmauke (PDF-E-Book)
www.stern.de
Rezension von Holger Witzel
Schreibtischtäter wie ich
Ehemalige DDR-Helden pfeifen auf Hartz IV. Altlasten wie Gesine
Lötzsch wollen nicht mehr so richtig von Kommunismus reden. Und ich
verschwende hier meine revolutionäre Energie für westdeutsche
Medienkonzerne? Eine Selbstkritik. Von Holger Witzel
Die einen zünden immer mal ein Besatzer-Auto an, andere verwüsten
als Hooligans westdeutsche Dritt-Liga-Städte oder bedienen die
niedrigsten Instinkte ihrer Landsleute lediglich in gehässigen
Kolumnen. Eine echte Draufgängerin aber wie Gesine Lötzsch
verbreitet mit einem einzigen Wort dermaßen Angst und Schrecken im
ganzen Land, dass sie es hinterher so lange im eigenen Mund drehen
und wenden muss, bis es nicht mehr wie ein verfassungsfeindliches
Parteiprogramm klingt. Jeder von uns tut, was er kann, oder - wie
es Marx, der alte Klugscheißer aus Trier, für die Zeit danach
versprach: »Jeder nach seinen Fähigkeiten.« Und doch, das musste
ich diese Woche einmal mehr erschüttert feststellen, sind wir alle
nur feige Schreibtischtäter - Herr Marx, Frau Lötszch und ich
leider auch.
Ein früher mal eng mit uns befreundetes Paar hat sich gerade
getrennt. Auf den ersten Blick ohne Grund oder multikulturelle
Zerwürfnisse, beide von hier, drei Kinder, zwei Meerschweinchen -
trotzdem waren am Ende wieder mal die gesellschaftlichen
Verhältnisse in den besetzten Gebieten Schuld.
Weil zumindest der Vater vermutlich bald ganz in die Illegalität
abtauchen muss, möchte ich seinen Namen an dieser Stelle mit K.
abkürzen, K. wie Kohlhaas. Das passt nicht nur zum Kleist-Jahr 2011
sondern auch zu ihm, »einen« - wie ihn die Novelle »Aus einer alten
Chronik« charakterisiert - »der rechtschaffensten und zugleich
entsetzlichsten Menschen seiner Zeit«.
K. weigert sich nämlich schon seit 20 Jahren, für Westdeutsche zu
arbeiten, ihr Zeug zu kaufen oder ihnen auch nur Geld für Miete in
den Rachen zu werfen. Weil es in so einem Fall selbst in Leipzig
wenig Alternativen gibt, war er die letzten Jahre viel zu Hause,
leistete hier und da ein wenig Nachbarschaftshilfe, was allerdings
- wie er es nennt - »vom Mehrwert-Regime« auch sofort als
Schwarzarbeit kriminalisiert wurde. Er selbst, darauf legt er Wert,
hat nie Hartz-IV beantragt. Seine Frau kümmerte sich bisher um
diese Dinge. Und obwohl das Geld trotzdem oft knapp war bei ihnen,
wirkte die Familie immer ausgeglichen, stolz und zufrieden in ihrer
unsanierten Kommunalwohnung.
Beim Bier warf mir K. ab und zu »unnötige Assimilation« vor, weil
ich meine Parkknöllchen pünktlich bezahle und nicht immer gleich
jeden unüberhörbar Zugereisten am Nachbartisch anpöbelte, was er
hier zu suchen habe. Er sprach schon lange vor Stuttgart und
Gorleben viel über Lenins »objektive Merkmale einer revolutionären
Situation«, aber konnte auch immer noch genau so gut von den alten
Zeiten schwärmen, als er die DDR und ihre pseudowissenschaftliche
Legitimation mutiger bekämpfte als die meisten von uns. Es
befremdete mich manchmal, dass ausgerechnet einer wie K., der
mehrmals im Stasi-Knast saß, nun plötzlich unvermittelt alte
Pionierlieder summte. »Unser Heimat«, zum Beispiel, »das sind nicht
nur die Städte und Dörfer...«
Er hat eine Macke, dachte ich oft. Dass die alte Gehirnwäsche
vielleicht doch länger wirkt, als alle dachten - oder die neue
nicht bei allen. Aber offenbar sind solche scheinbar paradoxen
Trotzreaktionen ehemaliger Freiheitshelden gar nicht so
ungewöhnlich. In ihrem Buch »Knastmauke« hat Sibylle Plogstedt mehr
als 800 Fragebögen von politischen Häftlingen der DDR ausgewertet
und etliche auch persönlich befragt. Viele berichten nicht nur über
die Traumata des damals erlebten Unrechts, sondern auch über ihre
Enttäuschung nach der so genannten Wiedervereinigung. Im Westen
gern für ihren Mut bewundert und mit ein paar Euro SED-Opfer-Rente
abgespeist, erleben sie heute ganz andere Grenzen der Freiheit,
nicht selten in Apathie und Armut. Das, so ihr fatales Fazit, haben
sie nun davon. Ganz anders K., der selbstredend auch auf die
monatliche Entschädigung verzichtet hat.
Er ließ sich weder von Pfändungen des Finanzamtes noch vom sozialen
Druck seiner Familie zur Besatzerfron zwingen. Was auf den ersten
Blick lächerlich wirkt, übertrieben und stur - das war mir auch
lange nicht klar -, ist in Wahrheit wieder Avantgarde: Ich - wir
alle sind dagegen nur jämmerliche Sklaven, Zwangsprostituierte zum
Teil, aber auch das ist keine Entschuldigung. Helden wie K. werden
auch die Anführer der nächsten Revolution sein. Heute machen sie
noch brav eine Kerze an, wenn ihnen wie seiner Familie und 800.000
anderen im Jahr der Strom abgedreht wird. Morgen werden sie die
Energie enteignen. Noch wehren sie sich gegen die Diktatur der
Auto-Lobby, indem sie ihre uralte Karre wieder und wieder
reparieren. Bald werden sie nur noch zu Fuß gehen, weil das Geld
nicht mal mehr reicht, um nur BP zu boykottieren. Total-Verweigerer
wie K. sind viel gefährlicher für die Euro-Demokratie als alle
Griechen, Iren und irren Terroristen zusammen. Sie erklären sich
nicht mal halboffiziell zu Verfassungsfeinden wie Gesine Lötzsch,
sondern gehen einfach heimlich nicht mehr wählen, arbeiten oder
einkaufen.
Leider ertrug das Frau K. nun doch alles nicht mehr und zog mit den
Kindern aus. Verständlich einerseits, nach diesem Winter mit einem
Klo halbe Treppe und undichten Fenstern. Auch sie lebt nun in einer
Wohnung, deren Sanierungskosten der westdeutsche Hausbesitzer zu
100 Prozent als Baudenkmal abgeschrieben hat und sich dabei noch
für einen Aufbau-Ost-Pionier hält. K. dagegen sollte für ein paar
läppische Regale, die er für Nachbarn zu einem Freundschaftspreis
aus Sperrholz baute, die Hälfte dem Finanzamt abgeben. Wofür
eigentlich, fragte er sich, und hörte danach ganz auf zu arbeiten.
Um den Euro und die Banken vor sich selbst zu retten? Für die
asozialen Abschreibungen des Vermieters seiner künftigen Ex?
Natürlich kann nicht jeder gleich ein Mahatma Gandhi werden wie K.,
so konsequent im Widerstand gegen Besatzer und bisher sogar
gewaltlos. Ein ostdeutscher Martin Luther King, der das Stigma des
falschen Geburtsortes einfach ignoriert und wie Nelson Mandela die
Tarif-Apartheid bekämpft, nach der es in fast allen Branchen nach
wie vor selbstverständlich ist, dass im Osten für weniger Geld
länger gearbeitet werden muss, wenn es überhaupt einen Tarifvertrag
gibt. Und doch brodelt es so oder so ähnlich in vielen Menschen.
»Heimat«, fragen sie sich und summen die alte Melodie mit, »sind
das überhaupt noch unsere Städte und Dörfer?«
Ein Fotograf - lange vor 1989 in den Westen abgehauen - vertraute
mir vor kurzem an, wenn er nicht noch Kinder in der Ausbildung und
ein Haus abzuzahlen hätte, dann würde er auch irgendwann... Damals
lief es bei ihm gerade nicht so gut - und mir eiskalt den Rücken
herunter. Inzwischen hat er wieder mehr Aufträge und sich
vorübergehend beruhigt. Trotzdem erschreckt es mich manchmal, wie
gleichgültig Freunde und Bekannte auf irgendeinen Knall warten,
eine Geldentwertung oder Schlimmeres - was soll schon sein? Meist
sind es Ostdeutsche, die schon einmal erlebt haben, dass plötzlich
nicht mehr galt, was unumstößlich schien. Die weder einen festen
Job noch irgendein üppiges Erbe zu verlieren haben oder gar den
Aberglauben, in einer Demokratie aufgewachsen zu sein. Fatalisten,
Maulhelden - mag sein. Aber wenn Nobelkarossen in ihren ehemaligen
Stadtbezirken brennen, fällt die Entrüstung längst mehr
gesetzeskonform aus. K. sagt, er fände das nicht in Ordnung, schon
aus Umweltaspekten.
Über mich und meine revolutionären Bemühungen in meinen Kolumnen
lacht er nur: Letztlich würde ich doch Leute beschimpfen, die mir
dafür auch noch ein mickriges Gehalt zahlen, was ich wiederum
anderen von ihnen für eine Wohnung weiterreiche, die noch vor
kurzem Volkseigentum war. Das sei nicht subversiv, sondern pervers.
Sie erlauben das höchstens, meint K., weil sie Profit wittern. Da
seien Kapitalisten völlig schmerzfrei, gierige Masochisten. Und
beschämt verschweige ich ihm, dass sich inzwischen Verlage aus
München und Frankfurt am Main für die Buchrechte überbieten.
Insgeheim aber schwöre ich mir und ihm: Sie können ihre Angebote
noch 30 Mal erhöhen - ich werde standhaft bleiben wie K. und am
Ende einfach das höchste akzeptieren. Damit es ihnen doppelt weh
tut.
www.stern.de