Rezension zu Gefühlserbschaft und Rechtsextremismus
www.socialnet.de
Rezension von Prof. Dr. Wolfram Stender
Jan Lohl: Gefühlserbschaft und Rechtsextremismus
Thema
Das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie ist, einem
viel zitierten Satz Adornos zufolge, potentiell bedrohlicher als
das Wiederaufkommen neonazistischer Tendenzen gegen die Demokratie.
Wie sich aber dieses Nachleben in den subjektiven Nah- und
Binnenräumen konkret gestaltete, welche sozialpsychologischen
Folgewirkungen der Nationalsozialismus auf der Täterseite hatte
(und hat), gehört zu den am besten gehüteten Geheimnissen deutscher
Nachkriegsgeschichte. Es ist Teil des postnazistischen Syndroms,
dass Fragen nach dem psychohistorischen Erbe des
Nationalsozialismus lange Zeit nicht gestellt geschweige denn
öffentlich diskutiert oder gar wissenschaftlich bearbeitet wurden.
Mit dem Buch von Jan Lohl liegt nun ein umfangreicher theoretischer
Entwurf vor, der es ermöglicht, die psychoanalytische
Tiefendimension der Tradierung von NS-Gefühlserbschaften bis in die
Gegenwart hinein nachzuverfolgen.
Autor
Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für
Soziologie der Leibniz Universität Hannover und gehört dem
Koordinationsgremium der Arbeitsgemeinschaft Politische Psychologie
an.
Entstehungshintergrund
In der Forschung über Entwicklungen des Rechtsextremismus wurde das
intergenerationelle Verhältnis von Nationalsozialismus und
aktuellem Rechtsextremismus bislang lediglich als Explanandum,
nicht aber als Explanans begriffen. Hier vollzieht die Studie von
Lohl einen Perspektivenwechsel, indem sie intergenerationelle
Tradierungsprozesse als eigenständigen Erklärungsfaktor für die
Entwicklung nationalistischer und antisemitischer Handlungsmuster
einführt. Zugleich erfüllt das Buch ein Desiderat psychoanalytisch
orientierter Generationenforschung, die die sozialpsychologischen
Folgewirkungen des Nationalsozialismus auf die Täterseite erst spät
thematisierte (zu nennen ist hier die Pionierstudie von
Schneider/Stillke/Leineweber 1996) und insbesondere für die dritte
Generation bisher eher skizzenhaft und wenig systematisch
untersucht hat. Erstmalig führt nun Lohls Studie die vorliegenden
Einzelfallanalysen, empirischen Untersuchungen und Theorieentwürfe
in einer übergreifenden theoretischen Konzeptualisierung
zusammen.
Aufbau
Die Arbeit enthält neben Einleitung und Ausblick fünf jeweils sehr
umfangreiche Kapitel. Das zweite Kapitel thematisiert die
individuelle Bezugnahme auf die Nation aus psychoanalytischer und
gesellschaftstheoretischer Perspektive und entfaltet eine
»Sozialpsychologie des Nationalgefühls«. In den folgenden drei
Kapiteln werden die psychische Dynamik, Struktur und jeweilige
Erscheinungsweise von NS-Gefühlserbschaften in einem drei
Generationen umfassenden Prozess dargestellt. Im sechsten Kapitel
schließlich wird der Bogen zu den aktuellen Erscheinungsformen des
Rechtsextremismus geschlagen und das Verhältnis von
NS-Gefühlserbschaft und Rechtsextremismus bei Angehörigen der
dritten Generation untersucht.
Inhalt
Theoretischer Ausgangs- und Referenzpunkt der Studie ist Adornos
sozialpsychologische Skizze vom Nationalismus als kollektivem
Narzissmus. Als solcher hat Nationalismus die Funktion einer
Ersatzbefriedigung für die gesellschaftlich freigesetzten, zugleich
unbefriedigt bleibenden narzisstischen Bedürfnisse vieler
Einzelner. Die libidinöse Besetzung nationaler Objektivationen und
die mit ihr korrespondierende aggressiv-destruktive Besetzung
antisemitischer Feindbilder wurden im Nationalsozialismus in einem
nie zuvor da gewesenen Ausmaß gesteigert. Indem der kollektive
Narzissmus das Fühlen, Denken und Handeln der »Volksgenossen« in
totalisierender Weise regulierte, organisierte er zugleich ihre
affektive Integration in die NS-»Volksgemeinschaft«. In »Schuld und
Abwehr«, der qualitativen Auswertung des legendären
»Gruppenexperiments«, bringt Adorno diese These in eine
intergenerationelle Perspektive. Zwar ist der kollektive Narzissmus
nach dem Zusammenbruch der Naziherrschaft auf einer objektiven
Ebene aufs Schwerste geschädigt worden; auf der subjektiven Ebene
aber bestehen die Identifizierungen mit dem nationalen Kollektiv
unbewusst und darum besonders mächtig fort. Sozialpsychologisch
schließt Adorno daran die Erwartung an, »dass der beschädigte
kollektive Narzissmus darauf lauert, repariert zu werden, und nach
allem greift, was zunächst im Bewusstsein die Vergangenheit in
Übereinstimmung mit den narzisstischen Wünschen bringt, dann aber
womöglich auch noch die Realität so modelt, dass jene Schädigung
ungeschehen gemacht wird«. (Adorno 1959, S. 564).
Exakt an dieser Stelle setzt Lohls Analyse der Folgewirkungen ein.
Um die unbewusste Erwartung einer Restitution des kollektiven
Narzissmus in einer grandiosen Wiederauferstehung der deutschen
Kollektivmacht zu schützen, errichten, so die Kardinalthese der
Arbeit, die einstigen Nazis ein »narzisstisches Berührungstabu«
gegenüber der NS-Vergangenheit, das in komplizierten
intergenerationellen Kompromissbildungen an die beiden
nachgeborenen Generationen weitergegeben wird. Lohl entfaltet diese
These auf dem Weg einer systematischen Ausarbeitung und
präzisierenden Erweiterung jener heute zu Recht als klassisch
geltenden sozialpsychologischen Diagnose, die unter dem Titel »Die
Unfähigkeit zu trauern« von Margarete und Alexander Mitscherlich im
Jahr 1967 vorgelegt wurde. Das narzisstische Berührungstabu setzt
sich in der – zuerst von den Mitscherlichs dargestellten –
»Derealisierung« der Vergangenheit um. Durch den psychischen
Mechanismus der Derealisierung gelingt es, die eigene Vergangenheit
als Geschichte erscheinen zu lassen, die die eigene Person nicht
spürbar betrifft. Derealisierung organisiert so den emotionalen
Rückzug aus der eigenen Geschichte und damit die Abwehr von
Schuldgefühlen. Als Resultat der Derealisierung steht die
aufrichtige Beteuerung des ehemaligen »Volksgenossen«, weder Nazi
noch Antisemit gewesen zu sein, und die nicht minder aufrichtige
Beteuerung der Nachgeborenen, dass Oma und Opa keine Nazis waren.
Und auch der für die beiden postnazistischen Gesellschaften
konstitutive, noch heute weit verbreitete Mythos, dass es
Antisemitismus gegeben hat, aber nach 1945 nicht mehr gibt, kann
auf der kollektiven Ebene als Resultat erfolgreicher Derealisierung
der NS-Vergangenheit interpretiert werden.
Abgewehrt wird dabei ebenjene schmerzliche Erinnerungsarbeit, die –
so wieder die Mitscherlichs – durch einen melancholischen Prozess
hindurch in die Auflösung der narzisstischen Bindungen an die
NS-Vergangenheit hätte einmünden können. Zugleich schweißt die
Abwehr der Erinnerung die »Volksgemeinschaft« phantasmatisch erneut
zusammen. So lebt diese in den nachgeborenen Generationen unbewusst
fort; und das wechselseitige Erkennen des narzisstischen
Berührungstabus in Gestalt von derealisierten Geschichtsbildern
entwickelt sich zum konstitutiven Moment des deutschen
Nationalgefühls.
Lohl betont, dass der Prozess der intergenerationellen Übertragung
von Gefühlserbschaften weder als linearer noch auch als
unausweichlicher vorzustellen sei. Gerade in der Perspektive von
drei Generationen werden jeweils spezifische
Generationenkonstellationen deutlich, die in besonderen, aber für
die Generationsmehrheit doch auch wieder typischen Tradierungsmodi
resultieren. So seien etwa Angehörige der dritten Generation häufig
mit einem besonderen unbewussten Auftrag der Eltern konfrontiert:
»Stellvertretend für deren ›Ich‹ sollen die eigenen Kinder zu den
Familienangehörigen aus der ersten Generation und zu deren
Vergangenheit gerade dort eine von Liebe, narzisstischer
Gratifikation und kommunikativer Rationalität geprägte Beziehung
ausbilden, wo während der Sozialisation der Eltern Aggressionen,
Konflikte und Schweigen vorherrschten.« (S. 445f.) Indem die Enkel
diesen Auftrag mit einer transgenerationellen Identifizierung
verinnerlichen, die das auf die Großeltern und ihre Vergangenheit
bezogene Fühlen, Denken und Handeln strukturiert, bietet sich eine
Andockstelle für paranoide Ideologien, wie sie für das Spektrum
rechtsextremer Gruppierungen charakteristisch sind. So kann Lohl
abschließend zeigen, dass die Analyse der NS-Gefühlserbschaften
dazu beiträgt, die affektive Attraktivität rechtsextremer
Orientierungsangebote zu erklären.
Diskussion
Lohl stellt überzeugend dar, wie im Schuld abwehrenden Prozess der
Derealisierung der NS-Vergangenheit Formen eines sekundären
Nationalismus und Antisemitismus generiert werden. Allerdings
versäumt er es, die neuere Diskussion um einen Formwandel des
sekundären Antisemitismus zu berücksichtigen. So hat etwa Ilka
Quindeau die These aufgestellt, dass die Leistung der zweiten und
dritten Generation gerade in einer Anerkennung der Schuld besteht,
die in mühsamen, leidvollen kollektiven Prozessen einer
ethisch-politischen Selbstverständigung errungen wurde. Dies
bedeutet allerdings nicht, dass die von den Eltern und Großeltern
übernommene Gefühlserbschaft ihre Wirkung verloren hat. Im Prozess
der Schuldanerkennung werden vielmehr neue Entlastungsstrategien
entwickelt. Diese Dialektik von Schuldanerkennung und
Schuldentlastung verändert die Form des sekundären Antisemitismus.
Das Bedürfnis nach Entlastung kann unterschiedliche Wege
einschlagen und sich in unterschiedlicher Weise äußern, z.B. in der
auf Israel bezogenen Täter-Opfer-Umkehr: »die Juden« in Gestalt
Israels sind heute genauso schlimme Täter wie »wir damals«, oder
auch in dem ebenfalls nicht neuen
»Die-anderen-sind-noch-schlimmer«-Motiv: »die Muslime heute« sind
mindestens so schlimme Antisemiten wie »wir damals«. In der
letzteren, gerade in migrationsgesellschaftlichen Kontexten sehr
aktuellen Variante scheint es zu einer eigenartigen ideologischen
(Wieder-)Verknüpfung von Rassismus und Antisemitismus in der Form
zu kommen, dass der wachsende antimuslimische Rassismus eine
sekundär-antisemitische Entlastungsfunktion übernimmt. Lohl geht
auf diese Diskussion nicht ein, was umso schwerer wiegt, weil sie
den Ergebnissen seiner Studie, die an der Schuldabwehrthese auch in
Bezug auf die nachgeborenen Generationen festhält, zum Teil zu
widersprechen scheint.
Fazit
Wer wissen will, wie sich die psychosozialen Nachwirkungen des
Nationalsozialismus auf der Täterseite über drei Generationen
hinweg darstellen, kommt an dem Buch von Lohl nicht vorbei. Es gibt
kein anderes Buch, das die psychischen Mechanismen, Strukturen und
Dynamiken der Entwicklung von NS-Gefühlserbschaften so detailliert
darstellt wie dieses. Um die »intergenerationellen Traumtexte«
(Schneider/Stillke/Leineweber 1996), die eigentümlichen
ideologischen Syndrome der beiden postnazistischen Gesellschaften
und den spezifischen Formwandel, den Nationalismus und
Antisemitismus von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart
durchlaufen, begrifflich nachzuvollziehen, ist die
politisch-psychologische Perspektive, die das Buch eröffnet, von
unschätzbarem Wert.
www.socialnet.de