Rezension zu C.G. Jung - Zerrissen zwischen Mythos und Wirklichkeit

Neue Zürcher Zeitung am 7. Oktober 2010

»Spaltpilze« um C. G. Jung
GG. U Keine Institution ohne Sezession, keine dogmatische Religion ohne Häretiker, keine Kirche ohne Ketzer, keine Partei ohne Dissidenten, keine Ideologie ohne Revisionismus, keine wissenschaftliche Doktrin ohne Abtrünnige: Mit entsprechenden offenbar unvermeidlichen Leiden scheint die Psychoanalyse seit ihren freudianischen Anfängen besonders geschlagen. Und auch ihre jungianische: Fortsetzungen stehen in der Lust an der Zellteilung und den Desastern der Kernspaltung nicht zurück. Daran mag man sich jetzt wieder erinnern, wenn man das voluminöse Buch der beiden Zürcher Lehranalytiker Brigitte Spillmann und Robert Strubel liest: »C. G. Jung. Zerrissen zwischen Mythos und Wirklichkeit. Über die Folgen persönlicher und kollektiver Spaltungen im tiefenpsychologischen Erbe«. Das Buch setzt sich eingehend mit Jungs problematischer Vergangenheit vor allem während der Herrschaft des Nationalsozialismus auseinander und erwirbt hier, auf einem verminten Gelände, grosse Meriten durch unübliche Offenheit und kritische Verve. Es schliesst auch Jungs persönliche Pathologie nicht aus. Der zweite Teil über die «narzisstisch-dyadische Versuchung» und die Voraussetzungen der «Triangulierung» bietet lesenswerte theoretische Reflexionen. Aber dann, zum unseligen Ende, setzt das Buch in seinem umfänglichen letzten Teil die Grabenkämpfe des gespaltenen Zürcher C.-G.-Jung-Instituts selber polemisch fort. Das hat immerhin den Vorzug, dass es den »Spaltpilz«, den das Buch diagnostiziert, auch generiert. Rezensenten freilich können sich unter solchen Umständen nur zwischen alle verfügbaren Stühle setzen. Da trianguliert man sich doch lieber gleich . . .
Brigitte Spillmann, Robert Strubel: C. G. Jung. Zerrissen zwischen Mythos und Wirklichkeit. Psychosozial, Giessen 2010, 507 S., Fr. 56.90.

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