Rezension zu Psychisch gestörte Kinder und Jugendliche gestern und heute
Der Kinder- und Jugendarzt
Rezension von Prof. Dr. Michael Straßburg
Gerhardt Nissen
Psychisch gestörte Kinder und Jugendliche gestern und heute
Persönliche Erinnerungen aus 60 Jahren
Das Buch von Gerhardt Nissen, dem früheren Direktor der
Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Würzburg,
beschreibt äußerst detailgetreu und ausführlich die persönliche
Sicht des Autors zur Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie
in Deutschland. Er beginnt mit seiner Jugend im dänisch-deutschen
Grenzgebiet, seinen Erfahrungen mit Nationalsozialismus und Krieg
sowie seinen Eindrücken im Studium in den schweren Zeiten nach dem
Krieg. Von 1954 bis 1962 erhielt er eine umfangreiche Ausbildung
als Psychiater in Bremen und wurde hier insbesondere auch
psychoanalytisch geschult. Von 1963 bis 1978 leitete er die Klinik
für Kinder- und Jugendpsychiatrie »Wiesengrund« in West-Berlin. Er
war einer der maßgeblichen Wegbereiter für die Anerkennung der
Facharztbezeichnung Kinder- und Jugendpsychiatrie 1968, nachdem
zuvor vor allem seitens der Pädiater nur eine »Jugendpsychiatrie«
akzeptiert worden war. 1970 gab es in Deutschland 4 Lehrstühle für
Kinder- und Jugendpsychiatrie, 1990 waren es bereits 18, heute gibt
es an praktisch jedem Universitätsklinikum mindestens eine
eigenständige Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie.
1971 hat Gerhardt Nissen zusammen mit Hubert Harbauer, Reinhard
Lempp und Peter Strunk das erste »Lehrbuch Kinder- und
Jugendpsychiatrie« herausgegeben. Die Habilitationsschrift von
Gerhardt Nissen zum Thema der Depression im Kindes- und Jugendalter
an der Freien Universität Berlin war nur durch die engagierte
Unterstützung verschiedener Persönlichkeiten möglich. Immer wieder
beschreibt Nissen seine Beschäftigung mit klassischen Themen der
Psychoanalyse, z.B. der Mutter-Kind-Dyade und den Konzepten der
Persönlichkeitsentwicklung nach Siegmund Freud, aber auch die
Auseinandersetzung mit Themen wie frühkindliche Hirnschädigung,
genetische Beeinflussung der Intelligenz und den Anfängen einer
Psychopharmakologie.
Interessant ist dabei, in der Fülle von Einzelaspekten und
detailgenauen Erinnerungen Untertöne zu registrieren, zum Beispiel
das Verhältnis des Autors zu dem Promotor der Sozialpädiatrie,
Theodor Hellbrügge: er bescheinigt ihm eine »mangelnde Ausbildung
in Psychiatrie und Psychoanalyse«, akzeptiert aber sehr wohl sein
großes Engagement für eine Verbesserung der Situation von
entwicklungsauffälligen und behinderten Kindern. Auch sein
Verhältnis zu anderen Kollegen der Kinder- und Jugendpsychiatrie,
zum Beispiel zu Reinhard Lempp war offensichtlich nicht immer
spannungsfrei: »Cavete Lempp« hieß es in Anlehnung an die
sozialkritische politische Einstellung des Tübinger Kinder- und
Jugendpsychiaters, die der Autor auch auf Grund seiner Erfahrungen
im Berlin der 68er Jahre sehr kritisch beurteilte bzw.
ablehnte.
In den Berichten von verschiedenen Kongressen, Treffen, Reisen und
Buchpublikationen werden oft persönliche Eindrücke und Erlebnisse
mit einer Darstellung wissenschaftlicher Diskussionen vermischt.
Dabei kann man immer wieder feststellen, dass viele Themen und
Fragen, insbesondere zum Zusammenhang zwischen der Intelligenz und
dem Verhalten mit der Genetik und der Umwelt unverändert aktuell
sind.
Eindrucksvoll schildert der Autor die Gründung und den Aufbau der
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Würzburg als erster
Universitäts-Klinik in Bayern. Dabei nehmen ausführliche
Darstellungen von Forschungsprojekten, Lehrtätigkeit,
Kongressbesuchen, Diskussionen mit Fachkollegen, Freundschaften,
aber auch Auseinandersetzungen mit verschiedenen Persönlichkeiten
einen breiten Raum ein.
Insgesamt ist das Buch eine sehr detailgenaue und umfangreiche
Darstellung der persönlichen Erfahrungen eines herausragenden
Vertreters der deutschen Kinder- und Jugendpsychiatrie in den
kreativen, aber auch spannungsreichen Zeiten des Aufbaus dieses
Faches. Für Leser, die an einer Darstellung der großen
Zusammenhänge, insbesondere auch der Entwicklung im Spannungsfeld
zwischen der Kinder- und Jugendmedizin einerseits und der
Erwachsenenpsychiatrie andererseits interessiert sind, ist das Buch
in weiten Passagen zu detailgenau und allein aus der subjektiven
Sicht des Autors geschrieben. Für alle die, die den Autor auf
seiner Entwicklung begleitet haben, bietet es aber vielfältige
Möglichkeiten zur Erinnerung und zum Nachdenken.
Letztlich ist die Entwicklung des Faches Kinder- und
Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, wie es heute
heißt, noch immer nicht abgeschlossen. Das vorliegende Buch ist ein
wertvoller Baustein für die Erklärung dieses Entwicklungsprozesses.
Es ist aber zu wünschen, dass gerade auch mit Hilfe der vielen von
Nissen zusammengetragenen Details doch eine zusammenfassende
Darstellung zur Geschichte der Kinder- und Jugendpsychiatrie in
Deutschland erstellt werden kann, bei der auch andere Strömungen,
zum Beispiel die Sozialpsychiatrie und die Sozialpädiatrie, mehr
berücksichtigt werden kann.
Prof. Dr. Michael Straßburg Präsident der DGSPG
Universitäts-Kinderklinik