Rezension zu Die Entwicklung des Selbst

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Rezension von Prof. Dr. Ariane Schorn

John D. Sutherland (Hrsg.): Die Entwicklung des Selbst

Hintergrund und Anliegen
2007 erschien das Buch »The Psychodynamic Image. John D. Sutherland on Self in Society«. Unter dem Dach besagten Titels finden sich ausgewählte Beiträge aus Sutherlands Werk, die Jill Savege Scharff, eine Supervisandin Sutherlands, die mit seinem Denken gut vertraut war, edierte. Mit »Die Entwicklung des Selbst« liegt nun die deutschsprachige Übersetzung der genannten Originalausgabe vor. Sie soll dazu beitragen, Sutherland auch einem deutschsprachigen Publikum zugänglicher zu machen.

Inhalt und Aufbau
Nach einem Vorwort, Danksagungen sowie einem längeren Einführungstext schließen sich neun Aufsätze Sutherlands an, die er in der Zeitspanne zwischen 1963 und 1990 verfasste. Sie werden jeweils von Jill Savege Scharff kommentierend eingeführt.
Sutherlands Grundüberzeugung, sein in allen Beiträgen immer wieder deutlich werdendes Anliegen wird bereits in dem das Buch eröffnenden Aufsatz »Eine Person werden und eine Person sein« (1990) auf den Punkt gebracht. Sutherland sieht einen dringenden Bedarf an einem neuen Paradigma in der psychoanalytischen Theorie, das er wie folgt fasst: Die »Zukunft der psychoanalytischen Theorie liegt sicher darin, das Selbst begrifflich in richtiger Art und Weise zu fassen« (57).
In dem Aufsatz »Das Begriffsmodell« (1963) vergleicht Sucherland das Freudsche Strukturmodell mit dem auf Fairbairn basierenden Objektbeziehungsmodell. Er kommt zu dem Schluss, dass die dreiteilige Strukturtheorie (Es, Ich, Über-Ich) als theoretischer Rahmen unzureichend ist und einer Überarbeitung bedarf.
Der dritte Beitrag des Buches »Britische Objektbeziehungstheoretiker: Balint, Winnicott, Fairbairn, Guntrip« entstand 1980 und beleuchtet den Werdegang sowie zentrale Ideen und Konzepte der vier genannten Psychoanalytiker.
In »Fortschritte im Verständnis von Kleingruppen« (1965) entfaltet Sutherland eine Objektbeziehungstheorie der Persönlichkeit, um sich dann der Frage zuzuwenden, wie sich innerpsychische Strukturen und Prozesse in sozialen Interaktionen niederschlagen. Im Mittelpunkt stehen dabei die intra- und interpersonellen Dynamiken in Kleingruppen.
Ausgehend von der These einer engen Verbindung zwischen Kultur und Persönlichkeit sowie der Forderung, stärker über die Beziehung von Psychoanalyse und Gesellschaft nachzudenken, werden in »Die Behandlung in der postindustriellen Gesellschaft« (1969) die Grundzüge des postindustriellen Zeitalters herausgearbeitet sowie mögliche Konsequenzen für die psychoanalytische Behandlung aufgezeigt. Sutherland betrachtet die Metapsychologie Freuds als dringend erweiterungsbedürftig. Er spricht von einem »zunehmenden Bedarf an einer psychologischen Theorie des Selbst« (167). Einen Beitrag zu der Frage zu leisten, wie sich das Selbst in seiner Entstehung und Erhaltung konzeptualisieren lassen könnte, ist ihm ein zentrales Anliegen. In »Das Selbst – eine Herausforderung für die Psychoanalyse« (1973/1983) verdeutlicht Sutherland anhand einer Fallvignette die Notwendigkeit und den Gewinn, den eine Änderung des theoretischen Standpunktes hin zu einer Theorie des Selbst haben könnte.
In »Das Selbst und persönliche Beziehungen« (1978) unterstreicht Sutherland die klinische Relevanz eines Selbstkonzepts bzw. der Postulierung eines Selbst als übergeordnetes System. Seine Position verdichtet sich in dem Satz: »Das Ich ist die Organisation der Transaktionen mit der Umwelt unter der ›Leitung‹ der Matrix des Selbst« (200).
Sutherland sieht das Selbst als dynamische Matrix in einem Zustand ständiger Bezogenheit bzw. in einer fortschreitenden Organisation von Bezogenheit. Diese Sichtweise bzw. den Wert, den eine solche entwicklungsorientierte Sichtweise vom Menschen im Bereich der Bildung und Behandlung haben könnte, skizziert er in das »Das psychodynamische Bild vom Menschen« (1979).
Das Buch schließt mit dem Aufsatz »Das autonome Selbst« (1980). Sutherland fasst hier frühe und neuere Theorien des Selbst zusammen, diskutiert diese und stellt Bezüge zwischen den verschiedenen Ansätzen her. Er sucht hier weiterhin die Entwicklung des Selbst hin zu einer »Identität« theoretisch zu fassen sowie die frühe Entwicklung des Selbst nachzuzeichnen.

Diskussion
Sutherland gehört zu der psychoanalytischen Gruppe um Fairbairn, dessen umfassende Objektbeziehungstheorie auch als »Kopernikanische Wende« innerhalb der psychoanalytischen Theorie gepriesen wird. Die Tradition, in der Sutherland steht, geht von Fairbairn aus und reicht über Donald W. Winnicott, Michael Balint und Harry Guntrip bis hin zu Daniel Stern und Otto Kernberg. Sutherlands Ausführungen erweitern die Grenzen psychoanalytischen Denkens. Sie tun dies, weil er eben nicht nur an einer klinischen Perspektive interessiert ist, sondern darüber hinaus auch geisteswissenschaftliche, kulturanalytische und politische Aspekte einzubeziehen und mitzudenken sucht.
In all seinen Beiträgen spürt man sein Ringen um eine Erweiterung bzw. Neufassung psychoanalytischer Metapsychologie, sein Ringen um eine integrierte Theorie des Selbst, zu der er einen wichtigen Beitrag leistet. Nach Sutherland konstituiert sich das Selbst auf der Grundlage der Beziehungen zu den wichtigen Beziehungspersonen. Es beinhaltet ein stetiges Wachstum und eine stetige Veränderung im Austausch mit bedeutsamen Anderen.

Fazit
Das Buch fasst Aufsätze und Vorträge zusammen, die einen Zeitraum von über dreißig Jahren umspannen. Die Leserin, der Leser kann auf diese Weise auch an einem Entwicklungsprozess teilnehmen, der seinen Höhepunkt in dem schließlich entfalteten Entwurf zur Entwicklung des Selbst bzw. in eine Theorie des »autonomen Selbst« findet. Interessant und erkenntnisreich ist das Buch im Übrigen auch, weil Sutherland einflussreiche Theorien, die in seiner Schaffenszeit entstanden, aufgreift, zusammenfasst und in Beziehung setzt.
Zu empfehlen ist das Buch m.E. in erster Linie PsychoanalytikerInnen, PsychotherapeutInnen sowie Menschen, die mit Fragen der Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit befasst oder an ihnen interessiert sind. Sutherland zu folgen ist nicht immer einfach, da seine Beiträge zuweilen assoziativ aufgebaut scheinen und er nicht selten darauf verzichtet, Begriffe, die einen weiten Bedeutungshorizont haben, klar zu bestimmen. Eben diese Art und Weise, Denkfiguren aufzubauen und nicht hermetisch abzusichern, machen seine Aufsätze bzw. Gedanken aber auch so anregend. Der Leserin, dem Leser wird nicht etwas »Fertiges«, Abgeschlossenes präsentiert, sondern hat vielmehr die Möglichkeit, an einem Prozess teilzunehmen, wird eingeladen, mit- und weiterzudenken.

Rezensentin: Prof. Dr. Ariane Schorn, Fachhochschule Kiel, Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit, Entwicklungspsychologie, Qualitative Sozialforschung, Psychosoziale Beratung, Supervision.
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