Rezension zu In Anerkennung der Differenz
WLP- News 4 /2010; Zeitschrift des Wiener Landesverbandes für Psychotherapie
Rezension von Leonore Lerch
Frauen beraten Frauen: In Anerkennung der Differenz
Feministische Beratung und Psychotherapie
1991 erschien im Wiener Frauenverlag das Buch von Diana Vogt und
Hilde Jawad-Estrak (Hrsg.) „Von Frau zu Frau – Feministische
Ansätze in Theorie und Praxis psychotherapeutischer Schulen“. Der
Band enthält Beiträge von Therapeutinnen der verschiedensten
psychotherapeutischen Schulen aus dem deutschsprachigen Raum und
gibt einen Überblick über den damaligen Stand feministischer
Therapie quer durch zahlreiche Fachbereiche.
2010 – fast 20 Jahre später – erscheint im Psychosozial-Verlag das
Buch „In Anerkennung der Differenz. Feministische Beratung und
Psychotherapie“. Vier Mitarbeiterinnen von „Frauen beraten Frauen“
– Traude Ebermann, Julia Fritz, Karin Macke und Bettina Zehetner –
geben das Buch anlässlich des 30jährigen Jubiläums der
Frauenberatungsstelle heraus. Was hat sich seit damals verändert?
Welche Entwicklungen fanden statt? Was verstehen wir heute unter
Feministischer Beratung und Psychotherapie? Mit diesen Fragen
setzen sich die Autorinnen in Fachartikeln, Dialogen und
literarischen Texten auseinander. Es überrascht nicht, dass wir
auf „bekannte Gesichter“ treffen: Marion Breiter, Agnes Büchele,
Traude Ebermann und Margot Scherl finden sich mit Beiträgen in
beiden Büchern wieder. Gemäß den Hauptarbeitsfeldern von „Frauen
beraten Frauen“, nämlich Feministische Beratung und Feministische
Psychotherapie gliedert sich auch das Buch in diese Bereiche.
Eröffnet wird der Diskurs mit einem Artikel von Margot Scherl und
Julia Fritz über ein Gespräch, das Margot Scherl im Dia log mit
Sabine Scheffler und Christina Thürmer-Rohr über die Anfänge der
2. Frauenbewegungen und deren Kritik an den patriarchalen
Gesellschaftsstrukturen und -kulturen führte. Sabine Scheffler
arbeitet im Anschluss zentrale Theorie- und Handlungskonzepte
frauenspezifischer Beratung und Therapie heraus, die überleiten
zum Teil „Feministische Beratung“. Ruth Großmaß analysiert kritisch
die Bedeutung von Frauenberatung angesichts zunehmender
Genderkompetenz in Beratungsorganisationen und zieht
Verbindungslinien zu Transgender- und Queer-Bewegungen sowie den
Anforderungen an Beratungsleistungen im Zuge sich verändernder
Gesellschaften, insbesondere durch Migrationsbewegungen. Agnes
Büchele beschreibt in ihrem Beitrag mit dem bezeichnenden Titel
„Viel erreicht! Wenig verändert?“ zahlreiche Aspekte von Gewalt im
Geschlechterverhältnis und unterstreicht die Notwendigkeit
Feministischer Beratung im Kontext männlicher Gewalt gegen Frauen.
Sylvia Groth und Felice Gallé skizzieren die Entstehung der
Frauengesundheitszentren, Bettina Zehetner setzt sich mit
Trennungs- und Scheidungsprozessen auseinander und stellt in einem
weiteren Beitrag das seit 2006 bestehende Angebot der
Feministischen Online-Beratung vor. Marion Breiter befasst sich mit
Frauen-/Netzwerken und strategisch vernetztem Handeln in der
Beratungsarbeit.
Im Teil »Feministische Psychotherapie« geben Brigitte Schigl (IGT),
Traude Ebermann (KIP), Anna Koellreuter (PA), Sabine Kirschenhofer
(SF) und Marietta Winkler (PP) anhand jeweils einer Fallvignette
Einblick in ihre therapeutische Arbeit, wobei sich – bei aller
Unterschiedlichkeit in der Methode – die feministische Grundhaltung
und Parteilichkeit für Frauen als verbindende Position darstellt.
Die verschiedenen Psychotherapiemethoden werden darüberhinaus
einer Kritik aus feministischer Perspektive unterzogen. Alice
Pechriggl beleuchtet Geschlechtsidentitäten und
Sex/Gender-Fluktuationen in Gruppen aus psychoanalytischer Sicht.
Regina Trotz setzt sich mit einem konstruktiven Umgang von
Differenz und Konkurrenz sowie den BündnismoÅNglichkeiten unter
Frauen auseinander. »Innen-Sichten« vermitteln Karin Macke, Bettina
Zehetner, Traude Ebermann und Julia Fritz aus Gesprächen mit
Expertinnen zu Themen wie Geschlechterpolarisierung, Subversion &
Empowerment oder Frauengenerationen. Ergänzend finden sich neben
den fachlichen Beiträgen auch ein literarischer Text von Marlene
Streeruwitz sowie Gedichte von Elfriede Gerstl. Die Autorinnen
lassen keinen Zweifel, wie »politisch« das »Private« auch nach
Jahrzehnten des Feminismus und der Frauenbewegungen im Kampf um
Gleichberechtigung, Chancengleichheit und Selbstbestimmung von
Frauen ist!
Das Buch »In Anerkennung der Differenz« thematisiert einerseits
feministische Beratungs- und Therapiekonzepte im Unterschied zu den
im Mainstream vorherrschenden männlich dominierten Theorien. Zum
anderen trägt es der Differenz und Vielfalt feministischer
Theoriebildung und Handlungsansätze Rechnung. Weitgehend ausgespart
bleibt die Auseinandersetzung mit den Verflechtungen und
Wechselwirkungen von weiblichem Geschlecht und ethnischer
Herkunft/Kultur sowie den sich daraus ergebenden neuen
Anforderungen an Beratung und Psychotherapie im Zusammenhang mit
Migration und Globalisierung. In der Weiterentwicklung und
Professionalisierung von Theorie- und Handlungskonzepten in diesem
Bereich liegt sicher eine der Herausforderungen für die
Feministische Beratung und Psychotherapie der Zukunft …
Es ist zu wünschen, dass das Buch »In Anerkennung der Differenz«
eine breite Rezeption findet sowohl im Bereich der psychosozialen
Praxis als auch in den Curricula von Beratungs- und
Psychotherapieausbildungen.
Leonore Lerch