Rezension zu Der kleine Vogel heißt Goral

Badische Zeitung, 28. Januar 2011

Rezension von Hartmut Buchholz

Die Zeit heilt überhaupt nichts
Ruth Koren hat die erschütternde Chronik ihrer jüdischen Familie aufgeschrieben.
»Mein Vater hat den Holocaust als gequälter, geschundener Mensch überlebt, aber er ist ihm nie entkommen.« Wie und warum die Opfer ein Leben lang von dem gezeichnet blieben, was sie doch überlebt hatten, ist in der Holocaust-Forschung vielfach thematisiert worden – selten findet es sich derart erschütternd beschrieben wie in Ruth Korens als »eine jüdische Familiengeschichte« ausgewiesener Chronik »Der kleine Vogel heißt Goral«. Familiengeschichte ist hier wörtlich zu nehmen, als biografische Spurensuche, die, bis in den Bildteil hinein, Persönliches und Privates präsentiert, die darauf aus ist, die historische Katastrophe im individuellen Schicksal zu spiegeln, getreu Goethes berühmter Maxime: »Was ist das Allgemeine? Der einzelne Fall. Was ist das Besondere? Millionen Fälle.«

Ruth Koren, 1948 in Berlin geboren, in Leipzig aufgewachsen, 1953 – »Es geht schon wieder los mit dem ewigen Antisemitismus« – mit ihren Eltern nach Frankfurt geflohen, seit 1969 in Israel lebend, dankt im Vorwort ihren Kindern, »ohne deren hartnäckige Fragen nach ihrer Familiengeschichte dieses Buch nie zustande gekommen wäre«. Die Autorin lässt ihre Figuren, als Kronzeugen jüdischen Schicksals, über weite Passagen selbst zu Wort kommen, montiert gleichsam O-Töne unter dem Stichwort »mein Vater erzählte / meine Mutter erzählte / Oma erzählte« zu einer Vergegenwärtigung von Vergangenheit, die auf bestürzende Weise präsent ist. Als die Mutter der Autorin Mitte der 1950er Jahre zum jüdischen Glauben konvertieren will, entgegnet der Vater: »Nein, bleib, was du bist. Wenn sich die Verfolgungen wiederholen sollten, kannst du uns schützen.«

Ruth Koren blendet zurück bis in die Urgroßeltern-Generation, zieht eine historische Spur von den 1870er, 1880er Jahren bis zu ihrer Existenz in Israel, ein Panorama vom deutschen Kaiserreich bis zur 60-Jahr-Feier der Staatsgründung Israels 2008. Szenen jüdischen Alltags, Stigmatisierung, Entrechtung, Deportation, Ghettoisierung, Vernichtung: Der Vater der Autorin überlebt den Holocaust als Krüppel an Leib und Seele, zahlreiche Familienangehörige kommen ums Leben.

»Der kleine Vogel heißt Goral« baut eine Ahnung auf von dem unerhörten Epochenbruch, den das Jahr 1933 für das jüdische Leben in Deutschland markiert, sowohl in historischer wie in privater Perspektive; gleichfalls wird die eminente Bedeutung der Staatsgründung Israels 1948 für die in die Diaspora versprengte jüdische Gemeinde kenntlich. (Dass sich die Autorin gegenüber dem Leid, das die Atommacht Israel der palästinensischen Zivilbevölkerung antut, nahezu ignorant zeigt, wäre eine eigene Untersuchung wert.) Vor allem aber beweist dieses Buch, dass alle Aufrufe zur Vergangenheitsbewältigung letztlich nur illustrieren, wie entsetzlich wenig vom traumatischen Kern dieser Vergangenheit begriffen wurde. Noch 1966 sagt die Großmutter väterlicherseits der Autorin im Gedenken an ihre in Nazi-Deutschland ermordeten Kinder: »Die Zeit heilt überhaupt nichts, jede Nacht stehen meine Kinder neben meinem Bett.«
Ruth Koren: Der kleine Vogel heißt Goral. Eine jüdische – Familiengeschichte. Haland & Wirth im Psychosozial-Verlag, Gießen 2010. 208 Seiten, 19,90 Euro.

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