Rezension zu Soziale Dimensionen der Sexualität (PDF-E-Book)
Zeitschrift für Sexualforschung Dezember 2010
Rezension von Tobias Boll
Thorsten Benkel und Fehmi Akalin (Hrsg): Soziale Dimensionen der
Sexualität. Gießen: Psychosozial Verlag 2010 (Beiträge zur
Sexualforschung, Rd. 94). 393 Seiten, EIJR 39,90
Die Zeit, in der mit dem Verweis auf das »Soziale am Sex« die
Relevanz sozialwissenschaftlicher Sexualforschung (nach innen und
außen) behauptet werden musste, ist wohl vorbei. Scheinbar nicht
versiegenden Selbstbezichtigungen ob der eigenen Sexvergessenheit
zum Trotz hat sich inzwischen ein einschlägiger soziologischer
Diskurs darüber etabliert, worin dieses Soziale besteht und mit
welchen Begriffen es adäquat zu beschreiben ist. Der Sammelband
»Soziale Dimensionen der Sexualität« bietet eine Momentaufnahme der
deutschsprachigen sozialwissenschaftlichen Sexualforschung und
veranschaulicht mit makro- und mikroperspektivischen, theoretischen
und empirischen Beiträgen gelungen die Bandbreite und Heterogenität
der Herangehensweisen innerhalb des Feldes. Die Einleitung der
Herausgeber zum Verhältnis von Sexualität und Kommunikation
verdeutlicht die (durchaus reflexionsbedürftige) Vorliebe der
Sexualsoziologie für diskursives Wissen, die auch andere Beiträge
des Bandes illustrieren bzw. (seltener) problematisieren. Fehmi
Akalin wägt verschiedene theoretische Fassungen der Eigenlogik
sexueller Kommunikation ab. Die spezifische Distanz zwischen dem
Alltagssprechen über Sexualität und gelebter Praxis sieht Thorsten
Benkel durch gesellschaftliche Diskursregeln markiert, die über die
Steuerung dessen, was sexuell sagbar ist, letztlich auch die
sexuelle Praxis kontrollieren können. Diese Distanz müsse die
wissenschaftliche Forschung, so sie sich auf diskursives Wissen
verlasse, systematisch mitdenken. Der Rest des Buches umfasst drei
Teile, die gesellschaftstheoretische Analysen, Betrachtungen des
soziosexuellen Wandels und Erscheinungsformen des Sexuellen
behandeln.
Der erste Teil thematisiert die gesellschaftliche Relevanz des
Sexuellen im Sinne der Relevantsetzung als Reaktion auf
gesellschaftliche Veränderungen. Sowohl Sven Lewandowski als auch
Peter Fuchs verorten das Bezugsproblem systemtheoretisch in der
funktionalen Differenzierungsform moderner Gesellschaften und
verstehen Sexua¬lität, bzw. den Rekurs auf diese als natürliche
Tatsache als gesellschaftliche und individuelle »Coping
Strategien«. Lewandowski sieht komplementär zur diskursiven
Mystifizierung des Sexuellen dessen strukturelle Irrelevanz
gegeben, durch die sich Sexualität als autonomes Funktionssystem
ausdifferenzieren und intern pluralisieren konnte. Die dafür
bezeichnende und befördernde Orientierung moderner Sexualität am
Primat sexueller Lust liest er am Orgasmusparadigma, am
Sexualstrafrecht oder an Prostitution und Pornografie ab. Gegenüber
dieser Vielfalt bleibt Sexualität für Fuchs die »fraglos
mitlaufende« Körperreferenz paarförmig organisierter Intimsysteme,
die Beziehungskrisen anzeigt, wenn sie zum Gesprächsthema wird.
Dass dies inzwischen üblich ist, deutet Fuchs als Krise der
Krisenanzeige, die Konsequenz gleich in kürzer dauernden
Intimsystemen. Damit sei deren Funktion heute weniger die
Verschaffung reziproker Komplettberücksichtigung, welche Individuen
in Zeiten der Polykontexturalität ihrer Einheit versichere, als die
»schockartiger Körperereignisse« durch Orgasmen, die Subjekte an
ihre Einheit entlang der Körperkontur glauben lasse. Fuchs/'
Vorstellung von Sexualität als konservativem Mechanismus wirkt mit
der Engführung auf Paarbeziehungen und deren Auffassung als Vorform
oder Auslöser von Familien selbst etwas konservativ: Erst in den
letzten vier Zeilen kommt Fuchs die Idee, dass sich Sexualität auch
aus dem Rahmen von Intimbeziehungen lösen könnte.
Vor dem Hintergrund neoliberaler Bedingungen wirken sexualbezogene
Gefahrendiskurse, so die Kriminologin Daniela Klimke, als Technik
der Gouvernementalität. Die Ausbreitung einer Verhandlungsmoral
oder die Betonung der Selbstbestimmung im Sexualfeld sieht die
Autorin exemplarisch für allgemeine Entwicklungen im
Neoliberalismus, die im Sinne von Foucaults Konzept der Bio Macht
die Selbstführung des Einzelnen befördern und ihm dabei immer mehr
Gefahren als persönliche Risiken aufbürden; das Sexualfeld eigne
sich besonders zur Proliferation dieser neuen Ordnung, indem es
durch Rekurs auf den Körper als »Natur des Menschen unterhalb
postmoderner Differenz« (S. 114) Individuen kollektivieren und sie
über den Verweis auf die Verletzlichkeit des Körpers in
Risikodiskursen als Risiko¬gemeinschaft mobilisieren könne. Dass
der Glaube an eine Naturgemeinschaft Kontingenz vergessen machen
kann, vermutet Rüdiger Lautmann als Grund für die hartnäckige
Nachfrage postmoderner Subjekte nach Sicherheiten in somatischen
Letztbegründungen, mit der die Konjunktur lebenswissenschaftlicher
Erkenntnisse bzw. deren essentialistischer Auslegung in der
Medienöffentlichkeit einhergehe. Diesen Glauben könne sich die
Soziologie zwar nicht erlauben, gleichwohl sei die Leugnung
körperlicher Tatsachen eine unfruchtbare Überreaktion. Lautmann
versucht zwischen Lebenswissenschaften und Soziologie zu
vermitteln: In ersteren glaube niemand mehr so recht an ewige
Wahrheiten und Kausalitäten, eine »Informatisierung des
Biologischen« erlaube längst wechselseitige Anschlüsse. Für diesen
Brückenschlag fordert Lautmann, den Körper als Dimension des
Sexuellen einer grundlegenden Betrachtung zu unterziehen und ihn
als Thema und als theorierelevant zu rehabilitieren, was auch
heiße, die überkommene Natur / Kultur Differenz zu verabschieden,
die etwa die sex / gender Unterscheidung anleitete. Lautmann setzt
auf konnektionistische Ansätze, die scheinbar natürlich Gegebenes
als kulturell gesättigt verstehen und zu einem Verständnis des
Körpers als »biokulturell« führen sollen.
Lautmanns Forderungen kann ohne weiteres zugestimmt werden; zwei
Fragen bleiben: Erstens. Wie genau soll sich die Sexualsoziologie
zu anderen, vorsoziologischen Wissensformen positionieren? Bei
Lautmann wird nicht ganz klar, welchen Status er
lebenswissenschaftlichem Wissen einräumt; es oszilliert zwischen
Erkenntnis und Erkenntnisobjekt. Zweitens. Wie soll die konkrete
Umsetzung dieses Programms aussehen? Lautmann lässt dies weitgehend
offen. Schade wäre, wenn sich die Soziologie mit der dichten
Lektüre biologischer Theorien begnügen oder es in Sachen Körper bei
der Adaption (gleich wie informatisierter) naturwissenschaftlicher
Erklärungen beließe. Was ihr so immer noch fehlt, ist ein
spezifisch soziologischer Blick auf das »Fleisch«, eine eigene
Wissensproduktion am Körper in seiner Materialität, seine
Konzeption als sinnhaft, ohne ihn auf formende Diskurse oder
Sprache zu reduzieren. Dies braucht es, soll die theoretische
Erkenntnis der Sinnhaftigkeit des Körpers nicht nur ein
»disclaimer« bleiben, wie er sich zu Anfang von Arbeiten findet,
die dem Sex dann nur ihr Gehör leihen und den Körper unbesehen
lassen.
Dass da gesellschaftstheoretisch »noch etwas war«, ruft der
Soziologie – eigenartiger- oder bezeichnenderweise vom Anfang des
zweiten Buchteils aus – Volkmar Sigusch mit einem Plädoyer für die
Wiederentdeckung kritischer Sexualtheorie in Erinnerung. Sigusch
stellt seine prominenten Thesen zur neosexuellen Revolution erneut
zusammen und legt leitende Prämissen seiner Arbeit offen; ohne den
Ursprung unserer Sexualität im Kapitalismus zur Kenntnis zu nehmen,
seien jüngste Transformationen des Sexuellen nicht zu verstehen.
Die Zunahme sexueller Optionen und Freiheiten etwa entpuppe sich so
gesehen als Kehrseite eines Regimes der Ver und Entstofflichung von
Menschen bzw. Waren mit dem Effekt der zunehmenden Irrelevanz von
Individuen für gesellschaftliche Prozesse. Diese Zweiseitigkeit des
sexuellen Wandels beleuchtet neben Sigusch auch Franz Xaver Eder,
der eine Lesart der sexuellen Revolution als Wechselspiel von
Liberalisierung und Kommerzialisierung anbietet. Indem Sex, so
Eder, seit den 1950er Jahren zum Konsumschlager wurde, haben neue
Freiheiten, aber auch neue Zwänge zu optimiertem Sex entstehen
können, die durch mediale Vorlagen geschürt und vermittelt werden.
Aktuelle romantische Tendenzen in lntimbeziehungen könnten als
Abkehr vom sexuellen Leistungsideal verstanden werden. Sophinette
Becker sieht in jüngsten Entwicklungen Auflösungstendenzen der
symbolischen Sexualordnung. Sie zeigt Diskrepanzen zwischen Diskurs
und Realität sowie Ambivalenzen der Auflösung und Persistenz von
Differenzen zwischen den Geschlechtern oder Normalität und
»Perversem«. Die Dämonisierung der Pädosexualität kritisiert sie
angesichts einer allgemeinen Erosion der Generationendifferenz und
der medialen Erotisierung des kindlichen Körpers, sowie der
»normalen« Sexualität jeder Eltern Kind Beziehung, die sie
entwicklungspsychologisch erläutert. Gunter Runkel wagt einen Blick
in die Zukunft von Sexualität und Liebe und sieht deren
kontinuierliche Umstellung auf Selbstreferenz seit Beginn der
Moderne. Runkel zeigt ideengeschichtliche Hintergrund bzw.
Zukunftsdiskurse und Entwicklungen der Liebes- und Sexualsemantik
auf und entwirft schließlich mit dem Ausblick auf menschliche
Chimären u.ä. teils die Grenze zur science fiction tangierende
Zukunftsszenarien.
Das Verhältnis von Medien und Sexualität zieht einen roten Faden
durch den dritten Teil. Massenmediale Sexualdiskurse erhöhen
zusammen mit zahlreichen teils widersprüchlichen kulturellen
Vorgaben Karl Lenz zufolge den kommunikativen (Distinktions
)Aufwand für Paare bei der interaktiven Aushandlung eigener und
einzigartiger Sexualrahmen. Deren Herausbildung sei nicht zuletzt
für den situativen Umgang mit Körpern relevant. Der Beitrag zeigt
den Wandel der Einbettung von Sexualität in Paarbeziehungen und
bietet einen Überblick über die interaktionistische
Sexualforschung, auf deren Herausforderung durch praktisches Wissen
Lenz abschließend hinweist. Dessen Verborgenheit sei durch
Befragungstechniken nicht beizukommen. Der von Lenz vorgeschlagene
Umweg über Spielfilme, Ratgeber und Belletristik kann jedoch ebenso
wenig überzeugen auch er verfehlt die Spezifik der Praxis. Renate
Berenike Schmidt fragt sozialisationstheoretisch nach dem Einfluss
von gesellschaftlichen Normen und Sexualideologien in der
individuellen Sexualentwicklung. Gerade der Jugendphase komme in
dieser besondere Bedeutung zu, eine Überschätzung des Einflusses
von Vorbildern wie im aktuellen Generalverdacht gegen die
Massenmedien, durch die Verbreitung von Pornografie die sexuelle
Verwahrlosung Jugendlicher voranzutreiben, sieht Schmidt (wie auch
andere Autoren des Bandes s.u.) jedoch kritisch. Es fehle an
empirischer Evidenz, daneben sei das Interesse an pornografischen
Inhalten im Sinne der Information ganz normal, genauso wie die
reflektierende Auseinandersetzung mit diesen. Hannelore Bublitz und
Sabine Grenz setzen Medien in Verbindung mit Geständnispraktiken
als Form der Subjektkonstitution im Sinne Foucaults. Für Bublitz
sind Medien wie das Internet Orte und Anreizstrukturen für
öffentliche Geständnisse sexueller Subjekte. Wie in solchen
Geständnissen der Sex als etwas Verborgenes erkannt werde, gelte
der Körper gemeinhin als Geständnis des Geschlechts samt passendem
sexuellen Begehren. Die Autorin plädiert mit Judith Butler für eine
»Entunterwerfung« aus normativen Identitätskonzepten. An
qualitativen Interviews arbeitet Sabine Grenz heraus, wie Freier in
der heterosexuellen Prostitution die durch das Medium Geld
entstehenden Ambivalenzen, etwa zwischen dem Bezahlen für Sex als
Vermögen und (sexuellem) Unvermögen, für ihre Selbstidentifikation
als »richtige« Männer nutzen und damit für die Reproduktion
heteronormativer Männlichkeit. Svenja Flaßpöhler problematisiert
kultur und medientheoretisch die These von der performativen Kraft
des Pornofilms, die übersehe, dass Pornografie trotz ihres
Realitätseffekts das (lacansche) Reale des Sex verfehle, und so
Betrachter mehr erregen als prägen könne. Die »Pornografisierung
der Gesellschaft« erkennt die Autorin in der Popularität des
pornografiegestützten Self Sex als Symptom der effizienzzentrierten
Leistungsgesellschaft und in der gegenwärtigen Erosion der Grenze
zwischen Öffentlichem und Privatem. Letztere illustriert Michael
Schetsche anhand pornografischer Selbstdarstellungen im Internet,
die sich zwar an Konventionen der Mainstream Pornografie
orientieren, diese aber auch unterlaufen. Schetsche will in diesen
Praktiken das Ende der Pornografie erkennen: Das mit der
bürgerlichen Gesellschaft entstandene »sexuelle Geheimnis«, dessen
gewollte Verletzung Pornografie auszeichne, verschwinde mit der
gegenwärtigen Veröffentlichung des Privaten, und damit die
Möglichkeit von Pornografie an sich. Schetsches Diagnose wirkt
etwas vorschnell, scheint doch zumindest beim Pornokonsum der
Ausschluss der Öffentlichkeit durch die Nutzer nach wie vor üblich.
Heimlichkeit und Einseitigkeit bestimmt Thorsten Benkel als
Charakteristika des voyeuristischen Blicks, dessen soziale Logik er
auf den Spuren Simmels analysiert. Im Unterschied zu anderen
lüsternen Blicken auf Peep-Shows oder Pornografie habe jener das
Geschehen auf der Hinterbühne vor Augen (und sexualisiere es zudem
erst dort). Benkel stellt detailreich dar, wie der Voyeur
Konventionen reziproker Wahrnehmung zwar verletzen, aber zugleich
Distanz einhalten muss, um genau diese »echte« Menschlichkeit vor
Augen zu bekommen und so (paradoxerweise) Intimität erleben zu
können.
In der Gesamtschau ist der Band sowohl für Einsteiger in
sexualsoziologische Fragestellungen als auch für länger
Interessierte eine anregende Lektüre, die ihrem selbst gestellten
Anspruch, anschlussfähige Fragen aufzuwerfen, nicht nur gerecht
wird, sondern auch die Notwendigkeit hierzu verdeutlicht. Vor allem
in Fragen der Empirie scheint es, als seien sich Voyeur und
empirischer Sexualforscher im Verlangen nach (leider illusorischer)
Authentizität und der gleichzeitigen Furcht, durch zu nahes
Hinsehen das Objekt der Begierde zu verschrecken, gar nicht
unähnlich.
Tobias Boll (Mainz)