Rezension zu Postsexualität
Zeitschrift für Sexualforschung Dezember 2010
Rezension von Dennis Kraemer
Irene Berkel (Hrsg): Postsexualität. Zur Transformation des
Begehrens. Gießen: Psychosozial Verlag 2009 (Beiträge zur
Sexualforschung, Bd. 92). 195 Seiten, mit Abbildungen, EUR
22,90
Ulrich Beck schrieb einst, »post« sei »das Codewort für
Ratlosigkeit, die sich im Modischen verfängt« und Niklas Luhmann
vermutete, dass das Aufkommen der »Rede von ›Postmoderne‹ [...]
vielleicht daran [liegt], dass die Dynamik der modernen
Gesellschaft unterschätzt worden war und ihre Beschreibungen allzu
statisch ausgefallen sind.« Man sollte also gewarnt sein bzw.
präzise angeben können, was mit dem Präfix »post« gewonnen wird.
Der Begriff der »Postsexualität« meine, so die Herausgeberin des
vorliegenden Sammelbandes, »nicht das Ende der Sexualität, sondern
es sind die mit dem Wandel sich abzeichnenden neuen
Erscheinungsformen angesprochen« (S.7). Diese sind nicht vollkommen
neu: Trennung von Sexualität und Fortpflanzung sowie
Bedeutungswandel und Autonomisierung des Sexuellen. Die Konsequenz
sei ein Zusammenbruch der alten Geschlech¬ter und
Generationenordnung, der die Frage aufwerfe, »wie sehr der Wandel
in das soziale Strukturgefüge und die Konstituierung des
begehrenden Subjekts« eingreife. Die aufgeworfenen Fragen werden im
Wesentlichen aus kulturwissenschaftlicher und psychoanalytischer
Perspektive angegangen, wobei auffällt, dass Bezüge zur empirischen
Sexualforschung selten sind.
Das Aufkommen postsexueller Ordnun¬gen macht Jean Clam in seinem
Text »Lässt sich postsexuell begehren?« am »Fading«, der
»Desymbolisierung« und einem verbreiteten »Wunsch nach einem Ende
und Jenseits des Sexuellen« (S.13) fest. »Im Fading geht es um das
In die Ferne Rückenlassen von Objekten, deren Gegenwart ein
Missverhältnis zwischen ihrer (allzu starken) Offenkundigkeit und
ihrer (allzu schwachen) libidinalen Besetzbarkeit stiftet« (S.17).
Dies treffe auf das Sexuelle insofern zu, als es omnipräsent, aber
aufgrund von Prozessen der »Defrustration« doch recht wirkungslos
sei. Paradoxerweise habe »die Sexualisierung der Kultur [...] zur
Errichtung einer psychischen, libidinalen Ordnung geführt, die
[einen] Entzug der erotisierenden Aktivierung produziert und
regelt« (S.20). Fading und Defrustration werden sozusagen zu
Überlebensstrategien in einer übersexualisierten Umwelt, da sie es
erlaubten, sexuelle (Über )Reizung psychisch zu deintensivieren.
Die »Desymbolisierung des Sexuellen« (S.23ff.) macht Clam
schließlich am Niedergang jener Symbolisierungen fest, die der
Psychoanalyse »lieb und teuer« sind bzw. waren (also den
»Produkten« der ödipalen Konstellation).
Die drei genannten Entwicklungen markierten nicht nur die
Entstehung eines postsexuellen Begehrensregimes, sondern stellten
auch die Frage in den Raum, was aus der Psychoanalyse werde.
Allerdings schränkt Clam ein, dass die Annahme »eines gemischten
Regimes, das postsexuelle Elemente neben sexuellen integrieren
würde« interessanter sei: »Das Postsexuelle wäre eine spezifische
Weise, über die das Sexuelle sich in eine Latenz begibt, ohne
verdrängt zu sein« (S.28).
Robert Pfallers Beitrag »Strategien des Beuteverzichts« geht
ebenfalls von zunehmender Sexualablehnung aus, die einerseits »ein
Kompromiss« sei, »den manche Individuen [...] unter den Bedingungen
weitgehender Enteignung von jeglichen kul¬turellen Mitteln mit
ihrem ich fremden Begehren eingehen« (S.45). Zum anderen sei sie
ein symptomatischer Ausdruck einer neoliberalen, narzisstische
Subjektivierungen begünstigenden Gesellschaft. Pfallers zentrales
Axiom ist, dass sexuelles Begehren ich fremd sei und die Aufgabe
der Kultur darin bestehe, »Mittel zur Verfügung [zu] stellen, mit
deren Hilfe sich das Ich Fremde als etwas Lustvolles und kulturell
Würdiges erleben lässt« (S.43). Die zeitgenössische Kultur sei zu
jener Leistung jedoch nicht (mehr) in der Lage, da ihre Subjekte
alles, was nicht mit dem eigenen Ego konform gehe, als Zumutung
erlebten. Ihr Imperativ laute, dass »alles wahrhaft Eigene [...]
auch erlaubt sein« müsse und umgekehrt »nur das Eigene geduldet
werden darf« (S.34). Diese »narzisstische Rebellion gegen alles
Materielle und Strukturelle« (S.35), die die sexuelle Revolution
angetrieben habe, richte sich nun gegen das Sexuelle selbst, da
dieses nach seiner Befreiung selbst als etwas Fremdes erlebt werde.
Asexualität nehme nun »die Rolle des Authentischen, unzweifelhaft
Ich Gerechten ein und drängt darauf, die als belästigend empfundene
Sexualität aus dem öffentlichen Raum zu verbannen« (S.36).
Den grassierenden Narzissmus deutet Pfaller als scheinbar
freiwilligen Verzicht auf »die Fähigkeiten zu begehren und sich
selbst als sexuell zu erfahren«, die eine »Beute gesellschaftlicher
Kämpfe« darstellten (S.40). In Wahrheit sei der Verzicht aber eine
Reaktion auf eine Niederlage in eben jenen Kämpfen. Postsexualität
antworte folglich »auf zentrale Probleme der Libidounterbringung
unter neoliberalen ökonomischen sowie postmodernen ideologischen
Bedingungen« (S.40).
So weit, so plausibel möchte man sagen. Die Frage ist nur, ob sich
die Verlierer tatsächlich in besagtem »Beuteverzicht« üben. Pfaller
versucht dies u.a. mit der Beobachtung zu belegen, dass Äußerungen
triebhaften Begehrens für die Mittelschichten als unschicklich
erlebt würden. Diese hätten jene »kulturellen Vorgaben für ihre
Sexualität« (S.42) verloren, die die notwendige Bedingung seien,
»um jenes Ich Fremde, das die Sexualität strukturell ist, in
feierlichen Momenten als lustvollen Triumph erleben zu können«
(S.42). Mit der Erodierung der entsprechenden kulturellen Gebote
habe die neoliberale Kultur folglich sexuelle Lustmöglichkeiten
zerstört. Pfallers Analyse leidet freilich unter dem
»Schönheitsfehler«, dass die angenommene Tendenz zur Asexualität
eher theoretisch erschlossen als empirisch belegt wird und zudem
(massenmedial) etwas aus der Mode gekommen ist. Will man allerdings
das zeitgenössische Unbehagen am Sexuellen beleuchten, so bietet
Pfallers brillante Verknüpfung soziologischer, psychologischer und
kulturwissenschaftlicher Ansätze bemerkenswerte Einsichten.
In ihrem Beitrag »Platonische Gene« arbeitet Bettina Bock von
Wülfingen heraus, wie »Liebe« der Durchsetzung neuer
Reproduktionstechnologien dient und Reproduktion zugleich von
Sexualität und Heterosexualität löst. Der Diskurs der neuen
Reproduktionstechnologien speise sich nämlich aus dem Recht auf
Selbstbestimmung, das impliziere, einen Kinderwunsch auch dann zu
realisieren, wenn soziale oder biologische Gründe dem
entgegenstehen (etwa: Homosexualität, Unfruchtbarkeit oder Alter).
»Liebe« legitimiere den Einsatz neuer Reproduktionstechnologien in
doppelter Weise: Künstlich gezeugte Kinder seien per se
Wunschkinder, in denen sich die Liebe ihrer »Eltern«
materialisiere, und aufgrund dieser besonderen Liebe zum Kind müsse
alles getan werden, um ihm die bestmöglichen Startbedingungen zu
bieten, wozu auch eine optimale genetische Ausstattung gehöre.
Liebe werde somit »als Motiv für die Anwendung der neuen
Reproduktionstechnologien angesehen« (S. 73). Platonisch sei diese
Form der Liebe aber nur scheinbar, da sie auf ihre
»Materialisierung [...] in der Form des ›Eigen Gen Kindes‹«
verweise (S.75). Deutet man die Nichtrealisierbarkeit eines
Kinderwunsches als ich fremde narzisstische Kränkung, so läge eine
Verknüpfung mit Pfallers Analyse (s.o.) nahe.
Mit den neuen Reproduktionstechnologien befasst sich auch Ada
Borkenhagen, deren Text »Elternschaft im Zeitalter der
Reprogenetik« stichwortartig Ergebnisse ihrer Befragung von
»Kinderwunschpaaren« referiert, ohne diese eingehender zu
analysieren. Aus dem erwartbaren Ergebnis, dass die befragten Paare
»mehrheitlich eine Ausweitung der Legalisierung gespaltener
Elternschaft [...] befürworten«, schließt sie ebenso unplausibel
wie unlogisch, dass de¬ren soziale Akzeptanz in der Bevölkerung
»sehr weit fortgeschritten« sei (S.85).
Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive beleuchtet Irene Berkel
die »Erosion des In¬zestverbots«, das einst als zentrale Stütze der
Kultur galt und in Freuds Konzeption des Ödipuskomplexes als
Grundlage der Ordnung der Geschlechter und Generationen fungierte.
Berkel fragt danach, was aus derartigen Konzeptionen in einer
Gesellschaft werde, die das binnenfamiliale Klima mit Liebe und
Verständnis auflädt und die (symbolische) Figur des Vaters
untergräbt. »Ist es nicht ...] so« fragt sie »dass mit dem Rückgang
des ödipalen Subjektivierungsmodus das lnzesttabu einen Teil seiner
Bedeutung für die sexuelle und generationelle Differenzierung
einbüßt und der Generationenunterschied im Sinne einer Angleichung
der Generationen neu codiert wird?« (S.95) Insbesondere die
Debatten über sexuellen Missbrauch und Pädophilie deutet sie als
Auseinandersetzungen mit dem Inzesttabu und als Symptom seiner
»mangelhaften Verinnerlichung«, während umgekehrt »dessen
Anerkennung die Bedingung einer stabilen Generationenschranke
zwischen Eltern/ Nachkommen und Erwachsenen/Kindern« darstelle
(S.97). Die symbolische Aushöhlung des Generationenunterschieds,
die durch die »Integration der Kinder und Jugendlichen in die Logik
der Marktes und des Warenfetischismus« noch verstärkt werde und mit
einem »Aufbrechen eines inzestuösen Phantasmas einher« gehe (S.98),
führt Berkel nicht nur auf psychische, sondern auch auf soziale
Bedingungen wie die Befreiungsdiskurse der 1960er Jahre zurück.
Christina von Braun widmet ihren eher religionswissenschaftlichen
Text »Postsexualität« mehr seinem Untertitel – »Die symbolische
Geschlechterordnung in den drei Religionen des Buches« – und wartet
mit einigen etwas gewagten Annahmen auf: etwa, dass in den besagten
Religionen das Geschlechterverhältnis das »Verhältnis von Gott und
Mensch widerspiegelt«, es also die »Funktion« habe, »eine wie auch
immer imaginierte göttliche Ordnung zu reflektieren« (S.105). Man
fragt sich freilich, ob hier nicht Kausalität und Korrelation
vermischt werden. Ähnlich die ausschließliche Rückführung der
Entwicklung der Gentechnologie in westlichen Industrieländern auf
christ¬liche Vorstellungen: Diese sei »kein Zufall, denn die
Genwissenschaft scheint wie die Erfüllung eines spezifisch
christlichen Heilskonzepts, das die Weltwerdung des Transzendenten
einfordert. Ist Christus der fleischgewordene Logos, so geht es in
der Wissenschaft vom Gen um das biologiegewordene Bit« (S.118).
Zwar prägen religiöse bzw. kulturelle Traditionen zweifelsohne das
Verhältnis zu Rationalisierung und Technologie (Max Webers großes
Thema!), aber da von Braun keine anderen Erklärungen für die
technologische Dominanz modern(isiert)er Gesellschaften in Erwägung
zieht, ist ihre Argumentation zumindest kurzschlüssig. Und: wie
verhält es sich mit Japan und Südkorea, die sicherlich nicht
christlich geprägt sind?
Zur Postsexualität bemerkt die Autorin schließlich, dass diese
»auch als Folge christlichen Denkens und des christlichen
Säkularisierungsprozesses« zu verstehen sei: Der Überdruss an der
Sexualität lasse »sich als Ausdruck einer Sexualität lesen, die mit
der Bindung an die Fortpflanzung auch ihren ›sakralen‹ Charakter
verloren hat« (S.121). Systematisch ausgearbeitet wird dieser
fruchtbare Gedanke freilich nicht.
Der Beitrag »Heterosexuelle Verhältnisse revisited« von Margret
Hauch und Silja Matthiesen sticht dadurch hervor, dass er auf
solider empirischer Sexualforschung fußt. Anhand der Ergebnisse des
Forschungsprojekts »Beziehungsbiographien im sozialen Wandel« soll
die Frage beantwortet werden, ob eine »Geschlechterrevolution« oder
doch nur eine »rhetorische Modernisierung« des Sexuellen
stattgefunden habe. Zwar verschwänden Geschlechtsunterschiede im
sexuellen Verhalten, allerdings sei es falsch, daraus abzuleiten,
»dass es auch gelingt, die sexuelle Interessen, Wünsche und
Bedürfnisse von Frauen in die gängigen Sexualbilder oder die
partnerschaftlichen lnteraktionsmuster einzuschreiben« (5.158). Im
sexuellen Erleben zeigten sich weiterhin erhebliche Unterschiede
zwischen den Geschlechtern etwa hinsichtlich sexueller
Be¬friedigung durch Partnersexualität und Selbstbefriedigung.
»Sexuelle Arrangements scheinen« so folgern die Autorinnen »immer
noch davon geprägt, dass gängige interpersonelle Skripte für die
Lust und Leidenschaft von Männern mit größerer
Selbstverständlichkeit förderlich sind, während sie Frauen nötigen,
die für ihre Lust und Leidenschaft zuträglichen sexuellen
Aktivitäten explizit zu artikulieren und eventuell auch gegen die
Wünsche ihrer Partner, aber auch gegen die von ihnen selbst
internalisierten Normen, durchzusetzen« (S.163). Von
»Postsexualität« also (nicht nur im Text) kaum eine Spur!
Mit den Folgen des (post ) sexuellen Wandels für die Psychoanalyse
befassen sich schließlich die Texte »Die Ambivalenz des Ursprungs«
von Wolfgang Hegener und »Abschied vom Schiboleth?« von Susann
Heenen-Wolff. Während Heenen Wolff sich in ihrem psychoanalytischen
Selbstverständigungstext über das Verschwinden der Sexualität in
der zeitgenössischen Psychoanalyse sorgt, oszilliert Hegener
zwischen Freudexegese und durch Foucault angeleiteter Freudkritik:
Zu einer Zeit, in der das Allianz durch das Sexualitätsdispositiv
abgelöst werde, trage die Psychoanalyse »nachträglich in die
anfänglich polymorph perverse infantile Sexualität das väterlich
ödipale Gesetz (der Allianz) ein und verpflichtet sie auf das
lnzestverbot« (S.141). Indem sie den Erhalt der Kultur an die
Anerkennung des Generationenunterschieds und der
Geschlechterdifferenz knüpfe, restauriere sie gleichsam die alte
Ordnung der Familie. Der Gegensatz zur »ödipalen
Generationsbindung« sei »eine narzisstische Selbstbegründung, der
Versuch nämlich, sich aus der unumkehrbaren Generationenfolge
herauszuschreiben, der zu einer wirklichen Anerkennung von
Differenz und Andersartigkeit des anderen« finde (S.144). Hegeners
punching line ist freilich, dass eine solche »Anerkennung der
Differenz [...] Freud in seiner Theorie des Ödipalen« nicht
gelinge: »Die Geschlechterdifferenz, so wie er sie beschreibt, ist
eben keine wirkliche, sondern eine nur relative; sie ist eigentlich
keine Differenz, sondern eine Opposition« (S.144). Es folgen die
bekannten Vorwürfe, dass Freud »nicht zur Konzeption einer
eigenständigen weiblichen Entwicklung durch[dringe]« (S.144), wobei
Hegener Freud vor allem der Vernach¬lässigung der Abhängigkeit vom
mütterlichen Ursprung anklagt. Nur wenn auch diese anerkannt werde,
sei »ein gelingendes Generationenverhältnis« möglich (S. 145) wobei
freilich offen bleibt, wie diese normative Setzung mit dem zu
beobachtenden sozialen Wandel zu verbinden ist.
Der vorliegende Band versammelt eine Reihe lesenswerter und
anregender Texte, leidet aber daran, dass der Begriff der
»Postsexualität« nur selten systematisch entfaltet und mit anderen
Konzepten verglichen wird, so dass sein Erklärungspotential
unscharf bleibt. In der Schwebe bleibt er auch insofern, als nicht
hinreichend geklärt wird, ob er neuartige Formen des Sexuellen,
postsexuelle Reproduktionsweisen oder aber post geschlechtliche
Entwicklungen beschreiben soll. Ähnlich wie man den Theoretikern
bzw. Propagandisten der Postmoderne vorwerfen muss, die
Dynamisierung der Moderne mit ihrer Überschreitung zu verwechseln,
sollte man bedenken, dass die Freisetzung des Sexuellen aus
reproduktiven und geschlechtlichen Fixierungen die
Entwicklungslogik der modernen Sexualität nicht überschreitet. Oder
geht es »nur« um das Ende der psychoanalytischen
Sexualitätsvorstellung, also weniger um die Konturen einer
postsexuellen als einer postpsychoanalytischen Sexualität? Die
Frage wäre dann freilich, ob die Tatsache, dass sich die
zeitgenössischen Sexualitäten dem psychoanalytischen Rahmen nicht
(mehr) fügen, für irgendwen von Bedeutung ist außer für seine
offensichtlich irritierten Anhänger.
Sven Lewandowski (Hannover und Duisburg)