Rezension zu Das Babel des Unbewussten
Fachbuch Jornal – Fach- und Sachliteratur für der Bucheinkauf
Rezension von PD Dr. habil Marion Grein
Im Zentrum des Werks steht die wissenschaftliche, psychoanalytische
Auseinandersetzung mit dem Thema Mehrsprachigkeit und den damit
verbundenen Prozessen im Menschen. Jede neue Sprache bzw. das
Beherrschen einer neuen Sprache kann zu einer neuen Identität
führen, gleichermaßen kann der Verlust einer (oder mehrerer)
Sprachen einen Identitätsverlust mit sich bringen. Kombiniert
werden in diesem seit der 1. Auflage stark aktualisierten Werk die
Themen Psychoanalyse, Migration, Sprache und Identität. Dabei wird
die Mehrsprachigkeit, wie in heutiger Zeit üblich, als Potential
betrachtet. lm Bereich der Mehrsprachigkeit wird dabei zwischen
Polylingualismus, dem gleichzeitigen Erwerb unterschiedlicher
Sprachen während der Kindheit, und Polyglottismus, dem späteren
Erlernen neuer Sprachen, unterschieden. Die emotionale Besetzung,
so die Autoren, ist dabei im Bereich des Polylingualismus sehr viel
stärker ausgeprägt. Der interdiziplinäre Charakter des Buches
fasziniert. Lediglich die psychoanalytische Fragestellung und
konkrete Patientenfälle durchziehen alle Kapitel gleichermaßen.
Neben der Einleitung gliedert sich das Werk in 12 Kapitel. Das
erste Kapitel widmet sich der Frage, wie sich die innere
Zwiesprache eines polylingualen Individuums, also eines Menschen,
der in mehr als nur einer Sprache denkt, spricht, schreibt und
träumt, konstituiert und innerpsychisch entwickelt. Im zweiten
Kapitel werden die historischen Wurzeln der Mehrsprachigkeit in der
Psychoanalyse nachgezeichnet. Das 3. Kapitel skizziert die
psychoanalytische Literatur zum Thema Sprachgebrauch. Die ersten
Beiträge zum Problem der Verwendung der Muttersprache oder einer
Fremdsprache in psychoanalytischen Therapien erschienen, so die
Autoren, in den späten 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Dies
wird im 4. Kapitel vertieft, wenn es um Identität und speziell
Geschlechtsidentität durch Sprachen geht. Belebt wird dieses
Kapitel so wie auch andere durch reale therapeutische Erfahrungen
der Autoren und weitere authentische Berichte. Das kurze 5. Kapitel
»Fragen« fokussiert die eine Frage: »Kann die Psychoanalyse
konstruktiv in die gegenwärtige Debatte über den Polylingualismus
als Schnittpunkt so unterschiedlicher Disziplinen wie der
Psycholinguistik, Neurolinguistik, Pädagogik und Soziolinguistik
eingreifen?« Anhand weiterer Fragen und deren Beantwortung wird der
Einfluss der Psychoanalyse aufgezeigt. Im 6. Kapitel, das über
zahlreiche klinische Beispiele verfügt, wird die Beziehung zwischen
Spra¬cherwerb aus neurobiologischer Sicht und persönlicher
Identität skizziert. lm 7. Kapitel wird der Spracherwerbsprozess in
der Kindheit vertieft, dem sich in Kapitel 8 ein Blick auf das
Präverbale, also die Zeit vor der Erlangung sprachlicher
Fertigkeiten, anschließt. Etwas weniger zentral, aber interessant
ist Kapitel 9, in dem es um die innere Welt von ausgewählten
Schriftstellern und deren Beziehung zu Mutter und Fremdsprache
geht. Das 10. Kapitel mit dem Titel »Schnittstellen« stellt
zentrale linguistische Monographien über die Mehrsprachigkeit vor.
Sehr aktuell ist hier der Abschnitt zu den neuen Entwicklungen von
bildgebenden Verfahren der Neurolinguistik. Im 11. Kapitel geht es
um Übersetzungsprobleme. Das letzte Kapitel bietet einen
Ausblick.
Ein insgesamt sehr spannendes Werk, das nicht nur Psychoanalytiker,
sondern auch Linguisten, Anthropologen, Literaturwissenschaftler,
Neurologen und Soziologen interessieren wird.
Rezensentin: Dr. Marion Grein