Rezension zu Sie küssen und sie schlagen sich
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Rezension von Martina Rehan
Barbara Kiesling beschreibt in ihrem Buch zunächst die Strukturen
der Partner in Misshandlungsbeziehungen, beschreibt deren
Persönlichkeiten und geht dann im zweiten Teil auf deren
gespaltenen Lebenswelten ein. Der sich daran anschließende dritte
Teil beschreibt das Unbewusste, »die geheimnisvolle Dimension«, die
dem Ganzen zugrunde liegt. Im letzten, vierten Teil folgt der Blick
in die Zukunft, in die Praxis, was sich ändern sollte.
Zunächst geht sie auf die Ist-Situation ein, dass
Misshandlungsbeziehungen häufiger vorkommen als vermutet wird,
Liebe und Gewalt, zwei eigentlich unvereinbare Themen, hier
aufeinandertreffen. Aus Scham und Verleugnung schweigen die
Betroffenen, sodass es für Außenstehende generell schwer ist, die
Situation zu erkennen und richtig einzuschätzen. Gewalttätige
Übergriffe werden nicht, wie allgemein angenommen, nur von den
Männern ausgeübt, sondern auch von den Frauen. Es sind immer beide
Partner beteiligt. Hier spricht Barbara Kiesling von einer
»Arbeitsteilung«, die stattfindet, indem einer von beiden seine
unverarbeiteten Aggressionen an den anderen delegiert, und dieser
dann quasi stellvertretend für ihn als »ausführendes Organ«
fungiert. Der aggressive gehemmte Partner verhält sich in
vergleichbarem Maße destruktiv-aggressiv. Sie betont, dass verbale
oder passive Gewalt in ihrer zerstörerischen Auswirkung genauso
folgenschwer ist wie körperliche Gewalt. Angriffe auf die Psyche
können sogar tiefer und nachhaltiger entwürdigen als physischer
Schmerz.
Die Mehrzahl der misshandelten Frauen sind sogenannte
»Borderline-Persönlichkeiten« mit gespaltenen psychischen
Strukturen. Traumatische Erfahrungen in der Kindheit, sogenannte
»Realtraumata« führen meist zu diesen Persönlichkeitsstörungen,
insbesondere wurde dies beim Inzest wissenschaftlich nachgewiesen.
Bei den Misshandlungsbeziehungen geht es also keineswegs um das
Streben nach Macht, sondern um die Abwehr von Ohnmacht.
Barbara Kiesling beschreibt dieses sehr komplexe und auch
schwerwiegende Thema aus tiefenpsychologischer Sicht unglaublich
verständlich und einfühlsam. Sie führt den Leser langsam in die
Thematik ein, führt ihn Schritt für Schritt weiter, immer bemüht
auch für den Laien verständlich die Zusammenhänge darzustellen.
Grundlegende psychologische Begriffe werden im Anhang nochmals
leicht verständlich erläutert. Es ist eindeutig kein Buch nur für
die Fachwelt, vielmehr ein faszinierender Einblick in die Psyche,
die Erlebenswelt dieser spezifischen Persönlichkeiten, aber auch
weit darüber hinaus ein Appell an die Menschen, sich der
Verantwortung bewusst zu werden, die im Umgang miteinander sich
zeigt. Faszinierend ist ihr Ausblick am Ende, ihre Forderung,
Bewusstsein zu schaffen und aus den Erkenntnissen zu lernen. Ganz
besonders im Mittelpunkt steht hier die Aufklärung, die
Bewusstmachung der so wichtigen, frühen Erfahrungen des Kindes, die
Forderung nach gewaltfreier Erziehung, das Durchbrechen der
Weitergabe der Traumatisierungen von Generation zu Generation. Am
Ende steht der so bezeichnende Satz, dass jeder Einzelne gefordert
ist, die Not leidender Kinder wahrzunehmen in der Bewusstheit, dass
aus ihnen jene notleidenden Erwachsenen werden können, von dem
dieses Buch handelt.
Dieses Buch ist schockierend wie faszinierend zugleich,
insbesondere auch aufgrund der beschriebenen Fallstudien zweier
Frauen, die am Ende ihre Männer töteten. Die zuvor in der Theorie
genannte Problematik wird hierdurch greifbar, konkret angewendet
und plausibel dargestellt. Ein Buch das insgesamt sowohl für die
Fachwelt als auch für den Laien sehr viel zu bieten hat. Es ist
selten, ein fachlich so fundiertes und gleichzeitig für die
Allgemeinheit so gut verständlich geschriebenes Buch über ein
insgesamt sehr komplexes und vielschichtiges Thema zu finden. Ein
Gewinn für alle, die sich ernsthaft mit der Problematik
auseinandersetzen wollen.
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