Rezension zu 20 Jahre deutsche Einheit - Facetten einer geteilten Wirklichkeit
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Rezension von Antje Armstroff
Wo stehen wir 20 Jahre nach der Vereinigung des einst geteilten
Deutschlands? Unter dieser großen Fragestellung steht das Buch »20
Jahre Deutsche Einheit – Facetten einer geteilten Wirklichkeit«,
herausgegeben von Prof. Dr. Elmar Brähler und Dr. Irina Mohr.
»Mit diesem Buch legen wir sowohl empirische Forschungsergebnisse
zur Lage der Menschen im vereinten Deutschland als auch politische,
soziale und ökonomische Analysen zur Inneren Einheit vor. Wir
hoffen, das Buch gibt Denkanstöße, trägt zur Vergewisserung über
die gegenwärtige Lage bei und macht wichtige Aspekte der geteilten
Wirklichkeit für zukünftige Herausforderungen nutzbar«, so die
Herausgeber über das vorliegende Werk (S. 13).
Auch wenn die politischen und administrativen Weichenstellungen
weitgehend abgeschlossen sind und wir im vereinten Deutschland
gemeinsame Wege gehen, so werden doch in der empirischen Forschung,
der Demografie wie auch in Debatten zu sozialen Werten,
Geschichtsbildern u.v.a. die noch vorhandenen Problemzonen
sichtbar.
Das Buch möchte den Fragen nachgehen, ob wir Deutsche zwanzig Jahre
nach der Wiedervereinigung eine gemeinsame Wirklichkeit teilen,
worin sich die Ost- und Westdeutschen unterscheiden und gleichen
und ob wir bereit und in der Lage sind, die vor uns liegenden
Zukunftsaufgaben gemeinsam zu meistern. Die Antworten sollen anhand
neuester empirischer Daten und politischer Reflektionen gefunden
werden, wozu Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Autorinnen
und Autoren der verschiedensten Fachdisziplinen eingeladen waren.
»So entsteht ein facettenreiches Ensemble empirisch gewonnener
Erkenntnisse, analytischer Betrachtungen und persönlicher
Anschauung«, so Brähler und Mohr in ihrem gemeinsamen Vorwort (S.
11).
Dieses Ensemble ist ebenso umfangreich wie vielfältig: es finden
sich Aufsätze und Studien über die komplexe innen- und
außenpolitische Lage von 1989/90, über die »Befindlichkeiten« von
»Ossis« und »Wessis«, über die außenpolitischen Weichenstellungen
der Wende und ihre Folgen für die Situation im heutigen Europa,
über das Bestehen und den Wandel sozialer Instanzen und
Gepflogenheiten in Ostdeutschland. Neben vielen Fakten, Daten und
Statistiken sind aber auch ganz persönliche Erfahrungen von in der
DDR Geborenen zu lesen. Wie bewerten sie im Rückblick ihre einstige
Welt und ihre Biographie? Die letzten Aufsätze des Buches widmen
sich der Zukunftsperspektive: So geht die Politologin und
Herausgeberin Dr. Irina Mohr der Frage nach, ob die Ost- und
Westdeutschen ihre Erfahrungswelten ausreichend nutzen, um in ein
gemeinsames Zukunftsprojekt einsteigen zu können. Zu medizinischen
und sozialen Daten in den alten und neuen Bundesländern wurden
vergleichende Untersuchungen durchgeführt: Frank Jacobi und Jürgen
Hoyer suchen nach messbaren Unterschieden der psychischen
Gesundheit, Thomas Lampert erforscht die Differenzen in Bezug auf
Tabakkonsum, sportliche Aktivität und Adipositas, Rolf Haubl und
Elmar Brähler analysieren Neid und soziale Gerechtigkeit zwischen
Ost und West.
Es würde den Umfang dieser Rezension sprengen, auf jeden Aufsatz
einzeln einzugehen und aus diesem Grund möchte ich einen Artikel
besonders herausstellen: »Die betongewordene Staatslüge« von
Friedrich Schorlemmer. »So viele Jahre, im Extremfall 28 Jahre lang
eingemauert leben, hinter einer ›Friedensgrenze‹, die zwei
Weltsysteme waffenstrotzend trennte, hinterlässt tiefe innere
Spuren«, sagt der Theologe (S.77). Er beschreibt das »Leben im
Arbeiter- und Mauernstaat«, er schreibt von einer Dressur in allen
Lebensbereichen, von Unterwerfung und Unterwerfungsbereitschaft,
von einer Doppelexistenz von »privat« und »öffentlich«, von
Demütigungen und Ausgeliefertsein, aber er schreibt auch von
Freundschaft, Liebe, Kultur und sozialer Sicherheit. »Selbst unter
unwürdigen Bedingungen gab es Leben in Würde. Im falschen gab es
wahres Leben!« (S. 79) Schorlemmer zeichnet ein deutliches und
nachvollziehbares Bild vom Leben in der DDR wie auch von der Außen-
und Innenpolitik. Er nimmt den Leser mit hinein in das geteilte
Land und den geteilten Himmel, mit hinein in das Arrangement der
Großmächte. Er zitiert die berühmte Rede Kennedys im Juni 1963 in
Westberlin und ordnet die weltbekannte Aussage »Ich bin ein
Berliner« in den richtigen Kontext ein, aus dem sie oft
herausgerissen wurde und wird. Schließlich wagt Schorlemmer einen
Ausblick »bis alle Mauern fallen« und schreibt: »Freiheit verträgt
keine Mauern, aber die Menschheit braucht einen gemeinsam
verabredeten Ordnungsrahmen – und ein großes Palaver über unsere
unterschiedlichen Herkünfte, Geschichten, Prägungen, Träume,
Verletzungen, Normen, Lebensweisen, Glücksvorstellungen« (S.
96).
Und dazu leistet dieses Buch einen wertvollen Beitrag.
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