Rezension zu Kinder der Shoah
TRIBÜNE, Zeitschrift zum Verständnis des Judentums, Heft 196, 49. Jahrgang, 4. Quartal 2010, S. 196.
Rezension von Roland Kaufhold
Generationsüberschreitend
»Die Überlebenden der Shoah tun sich wie alle Opfer
gesellschaftlicher Gewalt schwer, über das Erlebte zu sprechen.
Zeugnis abzulegen und vor allem gehört zu werden, ist ihnen jedoch
zugleich höchstes Bedürfnis. Wer indes von Unrecht, gebrochenen
Menschen, von Chaos, Grausamkeiten und Verbrechen berichten hört,
muss bereit sein, auf feste Beweise zu verzichten.« Mit diesen
Sätzen leitet Yolanda Gampel, eine israelische Psychoanalytikerin,
die seit 30 Jahren mit Überlebenden der Shoah sowie mit deren
Kindern und Enkeln arbeitet, ihr Werk ein. Es dokumentiert eine
Reihe von klinischen Studien und erscheint nach der französischen
Ausgabe 2005 nun auch auf deutsch. Im ihrem Vorwort betont Gampel
die Bedeutsamkeit ihrer Versuche, klinisch genauer zu verstehen,
wie schwere traumatische Erlebnisse auch in der zweiten und dritten
Generation seelisch in einer häufig destruktiven Weise fortwirken.
Denn auch wenn die Kinder und Enkel der Überlebenden keine
bewussten Erinnerungen an die Shoah haben können, »so wurden sie
ihnen doch als innere Realität vermittelt - sei es als
familiengeschichtlicher Verlust, als von den Opfern durchlebte
Leiden und Demütigungen« (S. 10), so die Beobachtung der Autorin.
Viele der von ihr behandelten Kinder hätten Symptome entwickelt,
die scheinbar nichts mit der von der Shoah geprägten
Familiengeschichte zu tun hatten, ohne diese jedoch nicht zu
verstehen seien. Gampel betrachtet ihre psychotherapeutische Studie
als eine Form der Erinnerungsarbeit, um die traumatischen
Auswirkungen der Shoah zu lindern. Dies ist für sie eine innere
Verpflichtung: »Viele Geschichten sind niemals gehört,
aufgeschrieben oder überliefert worden. Orte und Gegenstände können
sich zweifellos nicht erinnern, nur Menschen können sich mitteilen.
Das die Shoah umgebende Dunkel erhellt sich nicht mit den Jahren,
es wird im Gegenteil von Mal zu Mal dunkler. Und es leuchtet ein,
wie viel mit den wegsterbenden Überlebenden in Vergessenheit gerät«
(S. 15).
In zehn Kapiteln - überschrieben etwa mit »Michals
›Geistesabwesenheit‹ und das Ungesagte des Vaters«, »Großvater,
Großmutter, wie war das damals eigentlich?« oder »Papa, hörst du
mich« - entfaltet die Autorin in psychologisch deutender Weise die
Verwobenheit des familiären Leidens mit der Traumatisierung der
Eltern bzw. Großeltern. Sie spricht über die außergewöhnliche
Belastung, die viele Überlebende der Shoah ihren Kindern
übertrugen, wenn sie diesen beispielsweise die Namen ihrer eigenen
ermordeten Eltern gaben. »Als lebender Beweis des Fortbestands
erscheint jedes Kind eines Überlebenden als Wunderkind, das den
Schmerz des Verlusts mildert, zeigt es doch das Scheitern
derjenigen, die sich die Vernichtung der Juden auf ihre Fahne
geschrieben hatten« (S. 23). Im abschließenden Kapitel überträgt
Gampel ihre psychoanalytischen Beobachtungen auf den
Nahostkonflikt, der ebenfalls durch eine scheinbar unauflösbare
Verknüpfung destruktiver Affekte geprägt ist. Grundlage ihrer
Ausführungen ist eine »Israelisch-palästinensische
Friedensinitiative für geistige Gesundheit«, bei der die Autorin
mitwirkt. Insgesamt ist das Buch einfühlsam und
allgemeinverständlich formuliert und wird von einem optimistischen
Gestus getragen.