Rezension zu Ich, das Geräusch
Neues Deutschland vom 27./28. November 2010
Rezension von Silvia Ottow
Hör auf dein Ohrensausen...
Zwei neue Publikationen zum Tinnitus
Pfeifen, Piepen, Zirpen, Rauschen, Klingeln, Quietschen,
Ohrensausen - für den Tinnitus gibt es viele Synonyme. Sie richten
sich jeweils nach der Art, in der Betroffene - immerhin ein Viertel
aller Deutschen - die unwillkommenen Töne aus ihrem Hörorgan
wahrnehmen. Richtig guter Rat, wie der Mensch das Geräusch wieder
los wird, scheint indes teuer. Seit über 200 Jahren versuchen
Mediziner vergeblich, dem Phänomen beizukommen. Der
Psychoanalytiker Michael Tillmann aus Bremen hat mit seinem
Büchlein nicht nur ein weiteres Werk für das Ratgeberregal
verfasst, sondern einen vollkommen neuen Therapieansatz
beschrieben: Hören Sie, was der Tinnitus Ihnen sagen will.
Tillmann hat in seiner Praxis über die Jahre zahlreiche Patienten
mit Ohrgeräuschen behandelt und feststellen müssen: Es gibt nicht
DIE Lösung für den Tinnitus, die Wege sind so unterschiedlich wie
die Menschen. Der Psychoanalytiker entwickelte eine überzeugend
scheinende Strategie, die sich von den offenkundig wirkungslosen
technisch-medikamentösen Therapien der Gesundheitsindustrie
abwendet und auf die Psyche des Patienten setzt. »Nur Sie selbst
können Ihren Tinnitus verstehen lernen«, schreibt er. »Und tiefer
noch: Wie stehen Sie im Leben, und wie möchten Sie leben? Nehmen
Sie Kontakt zu Ihrem Ohrgeräusch auf.«
Auch, wenn dieser Rat auf den ersten Blick etwas merkwürdig
erscheinen mag, so ist er wohl keineswegs abwegig - das belegen die
Beispiele vieler Patientengeschichten, die Tillmann in seinem
Ratgeber schildert. Seine Annahme, dass der Tinnitussymptomatik ein
tiefer emotionaler Konflikt zugrunde liegt, ist nicht nur eine
Ergänzung zu den herkömmlichen Ratgebern, sondern ein wichtiger
neuer Aspekt in der Betrachtung der Symptomatik. Der scheint die
gleichermaßen zahlreichen wie sinnlosen Behandlungsversuche wie
Retraining, Infusionstherapie, Ginkgopräparate, Tauchfahrten oder
hyperbare Sauerstofftherapie in der Druckkammer in eine Reihe mit
dem schon in der Antike durchgeführten Aderlass zu stellen:
Versuche, die mehr Kosten verursachen als sie Wirkung zeigen.
Tillmanns Strategie aber kostet vor allem Anstrengung, weil sie die
Beschäftigung mit dem eigenen Ich voraussetzt.