Rezension zu Der grausame Gott und seine Dienerin
À jour Nr. 45 November 2010
Rezension von Theodor Itten
Es war der Titel, der lockte. Erst dachte ich zurück an Marion
Milners hervorragende Studie »The Hands of the Living God« (1969),
eine Fallstudie über das Aufzeichnen von unbewussten Wahngedanken
und Bildern, welche die eigene seelische Gesundheit bedrohen. In
Mosers Sammlung kommentierter Wortprotokolle einer vierjährigen,
niederfrequenten, psychoanalytischen Körperpsychotherapie, können
wir die Wortmeldungen einer Pfarrerstochter lesen, die unter einer
schweren ekklesiogenen Neurose litt (Ekklesiogene Neurosen wurden
in den 1950er Jahren von einzelnen Medizinern als religiös bzw.
kirchlich verursachte psychische Störungen bezeichnet (wikipedia).
Diese wurde erzeugt und hervorgerufen von einem
patriarchal-primitiven,kirchlichen Gottesbild, welches sie als
Introjektion bereits seit ihrer zarten Jugend quälte. Spannend
dachte ich mir, als Kenner der Szene hinter dem kirchlichen
Sonntagsvorhang.
Die Patientin Hannah H., bei Therapiebeginn 31-jährig und in diesem
Bericht als Mitautorin aufgeführt, hat die jeweiligen
Tonbandaufnahmen der Therapiesitzungen transkribiert. Das war ihre
Bezahlung für die Stunden, da es dem Autor der »Gottesvergiftung«
von Anfang an (1980) klar war, dass aus dieser Behandlung ein Buch
entstehen könnte. In der furchtbaren Traurigkeit des Beginns einer
möglichen Heilung liegt die Rettung im entstandenen therapeutischen
Duett, das die Übertragung und Gegenübertragung in sich aufnahm.
Hier höre ich in mir das Echo von Sandor Ferenczis therapeutischem
Tagebuch »Ohne Sympathie keine Heilung« (1932). Moser bringt die
köpertherapeutischen Interventionen behutsam ein. Die heilenden
Berührungen des Psychotherapeuten wecken durch die »Haut der Seele«
in der Patientin die Verborgenheit ihrer Gesundheit. Dazwischen
liegt der psychoanalytische Glaube, der auf die Selbstheilungskraft
der sprechenden Seele vertraut. Das christianisierte Gottesbild,
zusammen mit den lutherischen Glaubenssätzen, bedrohte und
knechtete die junge gesunde Seele der Pfarrstocher nieder. Zu einem
solchen Gottesbild, das zu einem Götzenbild verkommt, können wir,
sobald der Schleier der Sonntagsschulfrömmigkeit zerrissen ist,
nicht mehr aufschreien wie die Propheten und Liedermacher aus der
jüdischen Bibel. Der Pfarrsohn, Friedrich Dürrenmatt, sagte in
einem Interview: »Die Kirche ist etwas vom Schlimmsten was es geben
kann, weil die Kirche den Zwang auferlegt, weil sie einen
Scheinglauben, eine Scheinreligion, eine Scheinchristenheit, nur
eine Staffag von Glauben hat.« Die Kirche übernahm das Gottesreich
und machte uns die Hölle heiss. Was diese Scheinchristenheit in
diesem einen Fall, Frau Hannah H., angerichtet hat ist ein grosser
emotionaler Missbrauch, ein schmerzlicher Glaubensverlust durch die
anerzogene und erlebte Religion ihres Vaters und ein zerstörtes
Urvertrauen in den Zauber der Schöpfung. Endlich darf Hannah
ausführlich und ehrlich über ihr Leiden berichten. Sie darf ihre
verstockten Gefühle herausschreien, ja gar herausschlagen und
heraustreten in den Therapieraum hinein. Hunderte von Seiten füllt
diese oft anstrengend zu lesende, seelische
Katastrophenberichterstattung. Als Leser wurde ich zwangsläufig zu
einem katastrophistischen Voyeur gemacht. Da hilft es, dieses im
doppelten Sinne schwere Buch auf die Seite zu legen und es der
Autorin und dem Autor gleich zu tun und lange und tief
durchzuatmen.
Was ist eigentlich das Ziel dieser Psychotherapie-Reportage, mit
seinen wenigen kontextuellen und inhaltlichen Kommentaren?
Wir sollen erkennen, dass für jede Patientin (männlicher Patient
immer mitgedacht) eine eigene Therapieform gefunden werden muss,
die ihren Bedürfnissen gerecht wird. Der Mensch, ob Frau oder Mann,
ist immer nur die oder der eine einzelne und nicht die
Allgemeinheit. Das muss uns praxisorientierte Berufsleute
nachdenklich machen, die wir uns auch um Methoden, Schulen,
Techniken kümmern und die Vielfalt unterstützen.
Die Psychotherapie ist in der Lage, das ins Unbewusste abgesunkene,
als Neurosenstoff wieder ans Tageslicht hervorgebrachte Leiden der
seelischen Störungen zu heilen. Eine Gottesneurose ist seit Sigmund
Freud eine durch vergangene Konflikte verursachte seelische
Störung, die meist zu einer Fehlanpassung im »Hier und Jetzt«
führen kann. Unser alter Grossmeister aus Wien sah die Religion als
Dienstleisterin im Bereich der menschlichen Kultur, wo sie als
Bändigerin unserer wilden, aggressiven Triebe viel beigetragen hat.
»Gott« war einst ein Tätigkeitswort für giessen, opfern, das sich
mit den Jahren auf die Figur, welcher die Opferung dargebracht
wurde, übertragen wurde. Diese Gewohnheit hielt sich so lange, bis
das Wort Gott immer eine Figur, ob männlich oder weiblich
bezeichnete. Shiva, Athene, Jahu, Kali, usw. sind Gottesnamen, die
beibehalten werden durften.
Solcherlei Überlegungen suchen wir in diesem Buch vergebens. Warum?
Ich denke, die beiden AutorInnen können die strukturelle Lüge der
Kirchen (ob katholisch oder evangelisch) noch nicht sehen. In der
neuen Übersetzung »Die Brüder Karamasov« (2006) von Swetlana Geier
wird die Passage über die Lüge in der Struktur unglaublich
deutlich: «Wir werden sagen, dass wir Dir folgen und in Deinem
Namen herrschen. Wir werden sie abermals betrügen, denn Dich werden
wir nicht mehr zu uns hereinlassen. Und in ebendiesem Betrug wird
unser Leiden bestehen, denn wir werden lügen müssen.» Nach 130
Jahren ist diese Thematik immer noch top aktuell. Obschon jetzt
eine Psychotherapie hilft, diese Leiden in den Kontext der
strukturellen Gewalt der Kirchen (und die Militanz der Religionen)
auszusprechen, kann das Ende der Gewalt nur dann kommen, wenn wir
diese strukturellen Lügen erkennen. Das Glück des Vergessens von
Leid nachdem es ausgesprochen und in seiner verdrängten Heftigkeit
wieder gefühlt werden kann, ist gepaart mit dem neuen Glück der
frischen Leichtigkeit des Lebens.
Hannah H.`s Lebendigkeit in ihrem Zorn gegen den grausamen Gott
ihres Vaters (und der Kirche, in der dieser diente) richtet sich
manchmal gleichzeitig gegen ihren Therapeuten, in gegebenen
Abreaktionssituationen und gegen sich selbst. Wir tun immer anderen
das an, was uns angetan wurde und auch uns selber, bis wir es
merken. Das ist der erste Schritt in Richtung Heilung und
Emanzipation vom Kindheitsmuster. Danach kommt die schwere Übung
von: »Stop it!«. Eine alte Gewohnheit wird mit einer neuen, in der
Psychotherapie einübbaren Gewohnheit von ihrem Hauptplatz der
Verhaltensweisen vertrieben. Das emotionale Denken ist folglich das
Gespräch der Seele mit sich selber, in der Gegenwart eines anderen,
in diesem Fall eines Psychotherapeuten.
Auf dieser Bühne der Erfahrungen des therapeutischen Berufs- und
Patientinnen-Lebens, begegnet uns auf diesen Seiten die
Unheimlichkeit des göttlichen Wahns und die Dramaturgie der dunklen
Phantasie. Immer und immer wieder lesen wir in dieser
Wechselbeziehung über die religiöse Neurose und wie die Seele die
Lebendigkeit des Leibes ausmacht.
Die Hauptbotschaft dieses Buches ist somit, dass eine
Psychotherapie ohne Einbezug der Leiblichkeit mit ihren
affektgebenden Heilungsimpulsen sinnlos ist, da sie sonst etwas
versprechen würde, das sie nicht einhalten kann.
Mich stört in all dem Verwobenen dieses Psychotherapie-Dialogs,
dass ein renommierter Autor wie Tilmann Moser wirklich meint, die
bessere Lesbarkeit entstehe durch die Wahl der männlichen Form und
schliesse selbstverständlich die weibliche Form mit ein. Diese
Denk- und Gefühlslücke im Deutschen als Männersprache (Luise Pusch
anno 1984 lässt grüssen), ist peinlich in einem Buch, in dessen
Zentrum seine Patientin, eine Frau, Hannah H, als Mitautorin,
steht…