Rezension zu Was Freud und Jung nicht zu hoffen wagten … (PDF-E-Book)
Freiburger Literaturpsych. Gespräche - Jb f. Lit. u. Psychoanal. Bd 25 2005
Rezension von Wolfgang Gabler
Dass Freud und Jung größere Hemmungen hinsichtlich ihrer Hoffnungen
gehabt hätten, wie der Titel des Sammelbandes suggeriert, ist nicht
überliefert, und der betont lockere Ton, der hier angeschlagen
wird, klingt ein wenig nach Pfeifen im Walde.
Das Vorwort des Münchner Professors für Klinische
Psychologie/Psychoanalyse, Wolfgang Mertens, bestätigt diese
Besorgnis: Da ist die Rede vom »neurowissenschaftlichen
Reduktionismus« und seinem »Irrglauben, aus dem Menschen einen
neurobiologischen Apparat machen zu können«, durch den
»psychoanalytische Erkenntnisse«, die »ohnehin nur von einer
Minderheit zur Kenntnis genommen« worden seien, zurückgedrängt
würden, ähnlich wie so legt der Kontext des ersten Absatzes nahe
die Psychoanalyse »von den Nationalsozialisten als moralisch
zersetzende jüdische Lehre diffamiert und außer Landes gejagt«
(vgl. S. 7) wurde. Wird hier im Eifer des Gefechts mit Kanonen auf
Spatzen geschossen? Signalisiert die Analogiebildung von Wirkungen
der Neurowissenschaften und des Faschismus, dass Vertreter der
Tiefenpsychologie sich in derartiger Bedrängnis fühlen, in der
ihnen nur noch Polemik statt wissenschaftlicher Auseinandersetzung
bleibt? Einem Vorwortschreiber mag man diese unsachliche Schärfe
vielleicht zugestehen, soll die Neugierde eines für stumpf und
begriffsstutzig gehaltenen Publikums gekitzelt werden; wenngleich
Mertens Terminus »neurowissenschaftlichindustrieller Komplex« (S.
9) zeigt es wird hier auf die Bezeichnung
»militärisch-industrieller Komplex« angespielt, womit im Kalten
Krieg die Aufrüstungspolitik der USA kritisiert wurde, dass sich
der Verfasser hier nicht nur vom guten Geschmack verlassen gefühlt
haben muss.
Etwas anderes allerdings ist es, wenn unter dem Titel
»Selbstbewusstwerdung der europäischen Naturwissenschaft über den
Weg der Selbstaufklärung« ein Aufsatz mit wissenschaftlichem
Anspruch präsentiert wird, es sich dann jedoch um einen Text
handelt, der die beschriebene Polemik nur fortsetzt und dessen
intellektuelle Qualität sich auf einem dem Leser kaum zumutbaren
Niveau bewegt. Über den Autor, Herbert Scholpp, erfährt der Leser,
er sei ein »in Analytischer Psychologie ausgebildeter
Personalleiter eines internationalen Technologie Konzerns mit Sitz
im Hessischen« (S. 295), und in der Ankündigung nennt Mertens
Scholpps Beitrag zwar »provokative Überlegungen« (S. 11); das aber
berechtigt nicht dazu, hinter die Standards wissenschaftlichen
Denkens zurückzufallen.
Das geschieht jedoch bereits bei Scholpps methodologisch sich
gebender Diskussion, die unterstellt, es werde »die [?]
naturwissenschaftliche Methode unachtsam an[ge]wende[t], ohne ihre
Grenzen zu erkennen« (S. 19). Leider verschweigt (S. 77). der Autor
hierbei, wer dies tut, ebenso wie seinen Begriff von »Methode«.
Dies hätte man aber bei einer derartigen Grundsatzkritik doch gern
gewusst. Denn wenn der Verfasser »Methode« als Verfahrenswissen,
als eine Theorie über die Anwendbarkeit eines wissenschaftlichen
Verfahrens, begriffen hätte wie allgemein üblich, dann zerfielen
weite Teile seines Gedankengebäudes. Beispielsweise müsste sich der
Verfasser dann nicht mit rhetorischen Fragen der folgenden Qualität
befassen: »Sind nicht gerade experimentelle Ergebnisse völlig
wertneutral, nichts als die pure Wahrheit, jenseits aller
kirchlichen oder politischen Überzeugungen?« (S. 19)
So fragt sich der Leser, zu welchem Zweck jemand derart niedrige
Hürden aufbaut. Man muss sich doch nicht mit Wissenschaften
beschäftigen, für die anzunehmen ist, dass dort ein solcher Glaube
herrscht und etwa die »Heisenbergsche Unschärferelation« unbekannt
ist. Aber es ist typisch für Scholpps Beitrag, dass er aus jenen
Positionen, mit denen er sich auseinander zu setzen vorgibt,
intellektuelle Karikaturen machen muss, die zudem stilistisch oft
als zudringliche Leser Vereinnahmungen daherkommen: »Da wir [!]
aber nur innerhalb unseres [!] Denkrahmens die positivistische
Methode kennen, die seit über dreihundert Jahren praktiziert wird,
fällt es schwer[,] uns [!] vorzustellen, wie eine [!]
nichtpositivistische Methode beschaffen sein könnte [...]« (S. 27).
Gleichzeitig scheint der Verfasser die Illusion zu haben, die
Tiefenpsychologie sei oder habe eine Art ganzheitlicher Methode »i.
S. von Aufgehobensein in einer Synthese« (S. 30), die »den ganzen
Menschen mit seinen Ambivalenzen und Widersprüchen erfasst« (ebd.),
deren Aussagen nicht »unvollständig« (vgl. S. 34f.) sind usw. mit
einem Wort: ein Erlösungsversprechen.
Der Rezensent rät jedoch, von diesem Einstiegsbeitrag nicht auf den
Sammelband insgesamt zu schließen. Sehr viel näher kommt der
Absicht, die Leistungsfähigkeit von Theorie und Methodik der
Tiefenpsychologie im heutigen wissenschaftlichen Diskurs (wieder)
stärker zu Bewusstsein zu bringen dies ist das eigentliche Ziel des
Bandes der 1918 geborene Schweizer Dozent für Analytische
Psychologie, Willy Obrist. Er wählt in seinem Aufsatz
»Tiefenpsychologie als Basaldisziplin einer integralen
Humanwissenschaft« den Weg, das Denken C. G. Jungs und seiner
Adepten vor dem Hintergrund der Paradigmen des heute herrschenden
wissenschaftlichen Diskurses zu untersuchen. Zunächst sichert er
seine argumentativen Grundlagen, indem er die
wissenschaftshistorischen Entwicklungen der Jungschen Analytischen
Psychologie sowie deren Vor- und Umfeld in einem auch sprachlich
dichten Abriss rekonstruiert (S. 55 77). Dem schließt sich die
Entfaltung seines Schwerpunktthemas an, die »Tiefenpsychologie im
Licht heutiger Naturerkenntnis« (S.77 96).
Hierbei kommt der Verfasser zu überzeugenden und ein weites
Spektrum wissenschaftlicher Disziplinen beobachtenden Ergebnissen.
Dies ist aber nur möglich, weil sich Obrist über die theoretischen
und methodischen sowie über die begrifflichen und terminologischen
Probleme seines Untersuchungsfeldes im Klaren ist. Beispielsweise
heißt es, als wolle er Scholpp antworten: »Jede Disziplin schneidet
ja aufgrund ihrer spezifischen Methodik gleichsam ein Segment aus
der Natur heraus und verwendet zur Benennung ihrer Ergebnisse eine
spezifische Terminologie« (S. 77). Das hat selbstverständlich
Konsequenzen für den Geltungsbereich von Aussagen, für deren
Falsifizierbarkeit usw. Um die Interaktionsfähigkeit von
Tiefenpsychologie und Biowissenschaften, mit anderen Worten: »die
Konvergenz des Wissens über das Lebendige« (ebd.), herzustellen,
fragt der Verfasser nach kompatiblen Grundbegriffen. »Als solche
haben sich mir bewährt: Artspezifität, Selbstregulation, Kognition,
Kommunikation und Spontaneität« (ebd.). In den folgenden
Unterkapiteln werden dann diese Grundbegriffe systematisch
entfaltet, deren genannte Konvergenz dargestellt und wie nebenbei
offene wissenschaftliche Fragen, die auch eine breitere
Öffentlichkeit gegenwärtig beschäftigen, thematisiert,
beispielsweise »das heute noch von vielen diskutierte ›Problem der
Willensfreiheit‹« (S. 88; Hervorhebung im Original). Im Schlussteil
widmet sich Obrist einigen Ableitungen und Vorschlägen, die sich
aus seiner Diskussion ergeben und die gezeigt haben, dass die
genannten Grundbegriffe als Themen zeitgenössischer
Biowissenschaften einen gemeinsamen Kern haben: Sie lassen sich
»mit dem Energieparadigma ›nicht‹ vereinbaren« (S. 97; Hervorhebung
im Original). Diese Ableitungen – u. a. zum Menschenbild, zu
Konsequenzen für die Religionswissenschaft und zur Moral gipfeln in
Obrists These, die moderne Tiefenpsychologie als »Natur- ›und‹
Kulturwissenschaft« (S. 117; Hervorhebung im Original) zu
verstehen.
Ein ähnliches Ziel wie Willy Obrist hat auch Wolfgang Mertens, nur
verfolgt er es auf einem anderen Weg der Darstellung. Er wählt die
Textsorte des (fingierten) Interviews und nennt deshalb seinen
Beitrag, den weitaus längsten des Bandes, »Fragen an Freud Wenn
Freud heute noch leben würde« (S. 121 293). Die auf den ersten
Blick vielleicht originelle Idee verliert schnell an
Überzeugungskraft, weil die »Fragen« sich als Abhandlungen
erweisen, die sich oft über viele Seiten hinziehen, während die
»Antworten« verständlicherweise eher knapp ausfallen; Beispiel:
»Freud: ›Das Volk liebt die Vereinfachung‹« (S. 270; Hervorhebungen
im Original). Solche Trivialitäten hätte man »Freud« ersparen
können, ebenso wie die ihm in den Mund gelegten, sehr nach
Selbstlob riechenden Bemerkungen der Art »Freud: ›Damit haben Sie
etwas ganz Wichtiges angesprochen‹« (S. 129; Hervorhebungen im
Original). Davon abgesehen, hat Mertens Beitrag sein Gewicht, weil
er die wissenschaftliche Diskussion der letzten Jahre zum Frühwerk
Freuds bis zur und inklusive der »Traumdeutung« sehr detailliert
rekonstruiert und für weitere Auseinandersetzungen aufarbeitet.
Besonderes Interesse gilt jenen Themen, die auch für Obrist wichtig
waren und in denen die theoretischen Positionen Freuds und seiner
Nachfolgerlnnen untersucht werden, Positionen, die wiederum
Schnittstellen zum zeitgenössischen Wissenschaftsdiskurs bilden
können. Oft würden die Schnittstellen nicht (mehr) zur Kenntnis
genommen, weil nach Mertens Beobachtung stattdessen »ein Trend zu
einer ziemlich naiven Repositivierung wichtiger psychoanalytischer
Theoriebestandteile« (S. 140) festzustellen sei.
Hilfreich und den Überblickscharakter der Darstellung betonend
allerdings nun gar nicht mehr in die Textsorte »Interview« passend
ist Mertens Auflistung der für die Psychoanalyse relevanten
Forschungsliteratur zu Freuds »Fallgeschichten, zur
»Verführungstheorie«, zu Themen wie Gedächtnispsychologie und Traum
oder aber der Abdruck schwer zugänglicher Texte wie die Rezension
William Sterns zu Freuds »Traumdeutung«, die 1901 erschien (vgl. S.
238f.). Die genannten Schnittstellen zu markieren, bedeutet für
Mertens selbstverständlich, jene Positionen zu kritisieren, die
Irrwege eröffnen, beispielsweise die Freudsche »Symboldeutung«
(vgl. S. 269ff.).
Insofern findet der Leser ein – bei allen dargestellten Einwänden –
insgesamt lesenswertes Buch vor, das berechtigterweise auf die oft
unterbewerteten methodischen und theoretischen Leistungen der
Tiefenpsychologie verweist, ein Buch überdies, das
TiefenpsychologInnen zu Souveränität im wissenschaftlichen Gespräch
ermutigt und das, indirekt, vor argumentationsschwachen
Kraftmeiereien warnt.