Rezension zu Traumatisierungen in (Ost-)Deutschland
Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen Heft 11, November 2009, Jg. 63, S. 1170-1178
Rezension von Prof. Dr. Dr. Günter Jerouschek
Im Zentrum des Sammelbandes stehen nicht die immer wieder manifest
werdenden Dissonanzen im deutsch-deutschen Verhältnis, sondern die
Beschädigungen ostdeutscher Biographien durch Nazi-Zeit und Krieg,
Flucht und Vertreibung, durch stalinistische Repressionen und
Stasi-Praxis, wie es auch der Klappentext hervorhebt. Angelegen ist
dem Band eine Art veröffentlichte Traumabearbeitung, um einer
Perseverierung traumatischer Verletzungen durch politisch korrektes
Beschweigen zuvorzukommen. Die Autoren stammen - von Mario Erdheim,
der mehr wie eine Galionsfigur wirkt, einmal abgesehen - alle aus
den neuen Bundesländern, und so eignet dem Band, nolens volens
möchte man sagen, eine spezifisch ostdeutsche Perspektive. Dies
macht auch seinen Reiz aus, und man bekommt durchaus eine Ahnung
von den Gründen für die eingangs erwähnten Dissonanzen. Denn nach
dem gemeinsamen abgründigen Fluchtpunkt in der Nazi-Zeit sind die
beiden deutschen Staaten unterschiedliche Wege gegangen, und es
wäre ein Trugschluss zu glauben, man könnte sich der
Identifizierung, und sei es mit einem schlechten Objekt,
verweigern, wenn es die Lebenskulisse ausmacht. Dass auf den
Vereinigungsrausch ein Kater folgen musste, ergibt sich schon
daraus, worauf Froese (S. 78) zu Recht hinweist: Dass sich in der
DDR 12 Jahre Nazi-Herrschaft und 40 Jahre DDR-Regime addierten.
Einen Eindruck unbeschreiblicher Trostlosigkeit hinterlässt das
Titelbild
»Die Ausgezeichnete« von Wolfgang Mattheuer, das die Herausgeber in
ihrer Einleitung in den Blick nehmen: Verhärmt, physiognomisch fast
geschlechtslos und wie erstarrt sitzt hier die Geehrte, vor ihr
drei verblühende Tulpen, zwei rote, eine gelbe, wie aus Plastik,
ein Abbild der Desillusionierung, hohler Ideale und verlogener
Propaganda, eben der erbärmlichen Realität im DDR-Staat.
Auf Spurensuche begibt sich Christoph Seidler zur Beantwortung der
Frage, weshalb gerade jetzt die Geschichte sich so machtvoll Gehör
verschafft und erst jetzt Widergänger und Untote beerdigt werden
können (S. 31). An Geschichtskonstruktionen macht Seidler
Mythenbildungen aus, im Westen das Wirtschaftswunder, im Osten den
Antifaschismus. »Vertriebene« hießen die Flüchtlinge im Westen
übrigens nur im Amtsdeutsch, das ostdeutsche Pendant »Umsiedler«
markiert aber allemal eine ideologische Wegscheide (S. 34). Am
Beispiel der Kinder von Vertreibungskindern (Ost) dechiffriert er
die Brüche und Risse nicht nur im Selbst, sondern eben auch in den
Biographien, wenn diese sich z. B. »›irgendwo in Polen‹ verlieren«
(S. 44). Das im Titel vorfindliche Spektrum der Psychotraumatologie
läßt sich nicht nur am klinischen Material ganz umstandslos und
überzeugend entfalten, und das Plädoyer für die Einbeziehung der
Vergangenheit (»Psychohistorie«, S. 63) in die Psychoanalyse kann
man vorbehaltlos unterstützen. Vielleicht sind mitunter lausiger
Stil, Orthographie- und Grammatikschwächen auch dem Material
geschuldet und nicht nur redaktioneller Schludrigkeit.
In der Bevölkerung auf dem Gebiet der ehemaligen DDR finden sich,
worauf vor allem Hans-Joachim Gauck aufmerksam gemacht hat,
Verwerfungen, die nicht nur auf eine Ost-West-, sondern auch auf
eine Ost-Ost-Kluft verweisen. Man war »imprägniert« (S. 15) durch
das DDR-System, zugleich gab es aber nicht selten auch die
vorwurfsvolle Frage, warum der Vater oder auch man selbst die
Republik nicht beizeiten geflohen hätte. Für Michael J. Froese (S.
67-88) war dies sogar die »eigentliche« Frage in seiner Pubertät,
nur war sein Vater bereits aus Ostpreußen in die nachmalige DDR
vertrieben worden (S. 67). Der Bruder im Westen verweigerte noch
bei dessen Tod die Anteilnahme, ein Riss in der Familie, der wohl
bis in den Zweiten Weltkrieg hinabreicht und die Nachgeborenen
letztlich ratlos zurückließ. Das biblische »bis ins dritte und
vierte Glied« ist in dem Band eine allgegenwärtige Metapher (S.
69), und das Kinderlied »Maikäfer flieg« ist wohl eine Reminiszenz
an das schwedisch okkupierte Pommern im 30jährigen Krieg. Damals
wie heute hinterlässt der Krieg seine Wunden auch an den
Kriegskindem, häufig im Wege sequentiell-kumulativer
Traumatisierungen (S. 72).
Bei Seidlers Patientinnen und Patienten fand sich in der
Familienanamnese bei 57% ein Vertreibungs- bzw.
Flüchtlingsschicksal! Froese warnt aber zugleich davor, den
Traumafokus überzustrapazieren, da er bei leichteren
Traumatisierungen als vergleichsweise einfache Erklärung den Blick
auf komplexere psychische Strukturbildungen verstelle (S. 77).
Diese Gefahr scheint mir im Vergleich zur Ausblendung des
traumatischen Hintergrundes im »Hier und Jetzt« eher gering zu
sein. Die Prädominanz des Kollektivs in der DDR führte zu einem
markanten deutsch-deutschen Mentalitätsunterschied, nämlich zu der
für Ostdeutsche charakteristischen Scham als Verhaltensregulativ
gegenüber dem westdeutschen Individualismus. Freilich:
»Wer verachtet wird, verachtet sich«, und »ostig« figuriert im
Osten inzwischen als Schimpfwort (S. 62).
Systemopfer, Verfolgte oder Inhaftierte, waren es nicht, die nach
der Wende um therapeutische Hilfe nachsuchten; in die
Beratungsstelle für politisch Verfolgte kamen vorwiegend ehemals
linientreue Täter, Funktionäre und Parteikader, die unter
Verfolgungsängsten angesichts ihrer Opfer und der neuen
Verhältnisse litten (vgl. auch Bomberg, S. 104).
Die Funktion der Stasi-Unterlagen-Behörde reflektiert Annette
Simon. »Traumatisches Material« findet sich hier archiviert, und es
ruft die typischen Widerstände gegen die Beschäftigung mit ihm
wach. Sie erinnert an die bittere Wahrheit, dass nur Verdrängung
und Verleugnung ein einigermaßen gesundes Leben im Verfolgungs- und
Bespitzelungsklima der ehemaligen DDR ermöglicht hätten, wobei die
Ängste durchaus auch auf eine reale Dimension mit Hunderten
Mauertoter und Zigtausenden Inhaftierter verwiesen. So sind auch
die Akten ein Schlüssel zum DDR-Unbewussten (5.94).
Freilich liegt in einem solchen Rückblick auf die eigene Geschichte
auch ein Stachel im Fleisch vieler neuer Bundesbürger, der der
Asymmetrie: »So steht die ostdeutsche Seite nackt da, während die
andere Seite bekleidet bleibt« (5. 97). Im Schamdiskurs erheischt
dies allemal eine komplementäre Entblößung (vgl. auch Kruska, S.
160), und es ist fast schon ein Topos, dass der Westen auch seine
Leichen im Keller habe, etwa massive nicht aufgedeckte Bespitzelung
wie in der DDR oder auch verheimlichte Tote an der bundesdeutschen
Grenze.
Die traumatischen Auswirkungen politischer Haft und deren
transgenerationale Weitergabe an die Nachgeborenen untersuchen
Karl-Heinz Bomberg (S. 99-106) und Lutz Wohlrab (S. 107-117). Von
der Anerkennung der Haftkausalität für spätere Erkrankungen hängt
aktuell noch der Zuspruch sozialrechtlicher Entschädigungsansprüche
ab, deren Anerkennung wiederum für die Traumabewältigung bedeutsam
ist. Wenigstens für die erste, von Bomberg hier auf 1945-1953
datierte und von schweren Haftbedingungen geprägte Phase (S. 101,
107f.), mutet ein solcher Nachweis befremdlich an, es sollte besser
vom Vorliegen einer PTBS ausgegangen werden.
Die Inhaftierten verfügten über die PTBS-typische gesteigerte
Empörungsbereitschaft (S. 102). Sehr plausibel ist die Erklärung
für die auffällige Therapieabstinenz Hafttraumatisierter: Zu sehr
erinnert das therapeutische Setting an die Verhörsituation. Und
Wohlrab spricht auch ein in den neuen Bundesländern immer wieder zu
hörendes Argument an, das der notorischen täterseitigen
Entlastungsstrategie der Opferbeschuldigung ähnelt (S. 114): Die
Verfolgten ihrerseits hätten durch ihr deviantes Verhalten
verantwortungslos gehandelt und ihre Familien gefährdet. Schuld an
der Verfolgung sind also nicht die, die auf Menschen abgerichtete
Hunde an der Grenze einsetzten, sondern Republikflüchtige, die sich
einer solchen Gefahr aussetzten!
Angesichts der unterschiedlichen Biographien verwundert es nicht,
wie eingangs bereits angemerkt, wenn in den neuen Bundesländern
eine verbreitete »Verbitterungsstörung« diagnostiziert wird. Für
Astrid Wahlstab (5. 129-142) ist sie Folge von »Wende- und
Nachwendeverletzungen« (S. 132), die als sequentielle
Traumatisierungen verstanden werden können. Sie plädiert für die
öffentliche Anerkennung dieser durch die Wende geschlagenen
psychischen Wunden.
Was bleibt? Hoffentlich Dankbarkeit im Westen für das gnädige
Schicksal, solchen Verhältnissen nicht ausgesetzt gewesen zu sein.
Gönnerhafte Selbstbezichtigungen, im Westen habe es halt andere,
vergleichbare Unmenschlichkeiten gegeben, nützen nichts. Mir fiel
wieder ein, daß die DDR in meinen Studentenzeiten zwar als das
»bessere Deutschland« firmierte, wir aber immer froh waren, wenn
wir die unheimliche DDR-Tristesse auf der Fahrt nach Westberlin
hinter uns hatten. Um keinen Preis hätten wir mit dem »besseren
Deutschland« tauschen mögen. Mit den Dissonanzen werden wir noch
lange zu leben haben, und vielleicht verhilft uns eine glückliche
Fügung dazu, ein »Drittes« zu finden, das einen triangulären Raum
für beide deutsche Bevölkerungsgruppen eröffnet.