Rezension zu Psychisch gestörte Kinder und Jugendliche gestern und heute
Mutismus.de, Heft 2 November 2009
Rezension von Klaus Hartmann
Das Buch des prominenten emeritierten Ordinarius für Kinder- und
Jugendpsychiatrie Gerhardt Nissen verbindet die 1923 beginnende
Autobiographie des Autors mit der Geschichte der Kinder- und
Jugendpsychiatrie nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Wie es der
Titel des Buches nahelegt, fokussiert die Rezension zunächst den
Wandel im Erscheinungsbild unserer Kinder und Jugendlichen: Sie
beginnt mit dem Mitte der sechziger Jahre auffällig werdenden
Phänomen des Rauschmittelmissbrauchs bei Schülern und dem
korrespondierenden anarchistischen Phänomen der antiautoritären
Bewegung in den Schulen.
Nissen berichtet von der Entdeckung des ersten Haschischfalls im
Sommer 1966 in Berlin durch Dietrich Kleiner und einem ersten
Treffen mit drogenabhängigen Jugendlichen, »zu dem einer im
Schlafrock und mit einer langen Pfeife erschien«. Ein beachtlicher
Erfolg war sein Vortrag in der Rhein-Main-Halle in Wiesbaden 1974
mit einer Kritik an den antiautoritären »Rahmenrichtlinien« des
Hessischen Kultusministeriums: Der Vortrag wurde 20.000 Mal
gedruckt und verteilt.
Über ein anderes, wie der Rauschmittelmissbrauch, dem
anarchistischem Phänomen der antiautoritären Bewegung zuzuordnendes
Problem, die Verweigerung der Unterbringung
unterbringungsbedürftiger Kinder- und Jugendlicher bzw. die Öffnung
geschlossener Einrichtungen der Jugendhilfe berichtet Nissen auf
Seite 160: »Die bislang in diesen Abteilungen untergebrachten
Kinder und Jugendliche wurden entlassen, erhielten täglich ein
Taschengeld und übernachteten in für sie eingerichteten Häusern in
der Stadt. Sie hielten sich tagsüber überwiegend in der Innenstadt
auf und waren ständig auf den Treppen der Gedächtniskirche
anzutreffen.« Nissen: »Die Senatsverwaltung hatte mit ihren
Maßnahmen den gesetzlichen Auftrag, der ihr vom RJWG von 1923
ausdrücklich mit der Gründung geschlossener Einrichtungen
zugeschrieben worden war, nicht beachtet.«
Nissen errichtete an seiner Berliner Klinik »Kindersanatorium
Wiesengrund« den Anbau einer geschlossenen Abteilung mit 13 Betten
für psychisch erregte, psychotische und suizidgefährdete
Jugendliche. Für die Jugendhilfe blieb die Unterbringung
unterbringungsbedürftiger Jugendlicher weiterhin ein Problem. Auch
das Kinder- und Jugendhilfegesetz vom 23.3.1990, charakterisiert
durch den »Perspektivenwandel vom Eingriff zur Leistung«, der auf
das anti-autoritäre Interventionsverdikt hinausläuft, lässt diese
Jugendlichen »außen vor«. 1999 brachte Nissen als einer der
Herausgeber der Münchener Medizinischen Wochenschrift (MMW) eine
Ausgabe der MMW heraus, in welcher, neben anderen Themen, »das
Problem der geschlossenen Unterbringung in Einrichtungen der
Jugendhilfe« thematisiert wurde (MMW 141, 1999, Nr. 16, 211-214).
So hat Nissen als Herausgeber/Mitherausgeber von Fachzeitschriften
immer wieder zur Publikation von Problemen der Kinder- und
Jugendpsychiatrie beigetragen.
Nissen hat an mehreren Lehrbüchern mitgearbeitet. Eine große
Verbreitung fand das mit Hubert Harbauer, Reinhart Lempp und Peter
Strunk publizierte »Lehrbuch der speziellen Kinder- und
Jugendpsychiatrie«. Nach den ersten Neuauflagen erhielt das Buch
auch eine Allgemeine Kinder- und Jugendpsychiatrie. Nach dem Tod
von Hubert Harbauer übernahm Christian Eggers seine Nachfolge. 1994
erschien die 7. und letzte Auflage des Lehrbuchs.
Ausführlich geht Nissen auf den Seiten 343-350 auf folgende eigene
Buchpublikationen ein: »Psychische Störungen im Kindes- und
Jugendalter«, »Psychopharmaka im Kindes- und Jugendalter«,
»Seelische Störungen bei Kindern und Jugendlichen«,
»Kulturgeschichte seelischer Störungen bei Kindern und
Jugendlichen«. Die zitierte Kulturgeschichte ist eine Geschichte
des Verständnisses von psychischen Störungen bei Kindern und
Jugendlichen in den Epochen unserer Geschichte, wobei Nissen neben
den Erkenntnissen der Epochen auch ihre Irrtümer und ihre Irrwege
skizziert und nicht nur mit den jeweils herrschenden Lehrmeinungen,
sondern ebenso mit den Biographien und Abbildungen ihrer führenden
Vertreter bekannt macht.
Spezielle Beiträge zur Forschungsförderung leistete Nissen u. a.
als Gutachter der »Deutschen Forschungsgemeinschaft« sowie als
Gründer der Stiftung »Forschungspreis Psychotherapie in der
Medizin« und als Gründer der Stiftung »Hermann-Emminghaus-Preis«.
Besondere Erwähnung verdient sein Beitrag zur Aufnahme des
Psychotherapietitels in den Facharzttitel für Kinder- und
Jugendpsychiatrie. Mit der Unterstützung von Annemarie Dührssen
(Psychotherapie), Paul Ernst Janssen (Psychoanalyse) und Helmut
Ernst Ehrhard (Rechtsmedizin) setzte er sich für die Übernahme des
Psychotherapietitels in den Facharzttitel für Kinder- und
Jugendpsychiatrie ein, was mit Unterstützung des Rechtsreferenten
Prof. Dr. jur. Hess auch gelang. Die Psychiater konnten sich
zunächst nicht zur Übernahme des Zusatztitels Psychotherapie
entschließen, folgten aber später nach.
Das Buch wendet sich an alle, die sich beruflich mit psychisch
gestörten Kindern und Jugendlichen beschäftigen, vor allem an
Kinder- und Jugendpsychiater, Kinder- und Jugendpsychotherapeuten,
Diplom-Psychologen, Heil- und Sozialpädagogen und natürlich auch an
Eltern.