Rezension zu Tinnitus
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Rezension von Helmut Schaaf
Dabei ist die Wahrnehmung eines Tinnitus primär kein
psychologisches Problem, wohl aber das Leiden am Tinnitus. Zur
objektiven Realität gehört dabei, dass sich die Tinnitus-Lautheit
vergleichend zwischen 5 bis maximal 15 dB über der Hörschwelle
bestimmen lässt. Das entspricht Blätterrascheln oder
Computergeräusch. Zur subjektiven Realität gehört, dass die
Betroffenen »ihren« Tinnitus oft als sehr viel lauter empfinden und
ihn in der Regel - subjektiv stimmig - für die entscheidende
Ursache ihrer Beschwerden wie Unruhe, Nervosität, Schlafstörungen
bis hin zu depressiven Entwicklungen halten. Nach Tillmanns als
Patientenratgeber gedachtem Buch »Ich, das Geräusch« (1), liegt nun
die ausführliche, wissenschaftlich ausgerichtete und als
Doktorarbeit eingereichte Version zur Verknüpfung der individuellen
Bedeutung des Tinnitusleidens mit den gesellschaftlichen
Bedingungen vor. Dabei setzt Tillmann einen deutlichen Kontrapunkt
zu den überwiegend HNO-ärztlich oder verhaltenstherapeutisch
gehaltenen Veröffentlichungen und Ratgebern. Durch diese erste
psychoanalytische Studie - so R. Vogt in seinem Vorwort - »wird das
Symptom aus der bizarren Entfremdung des unerklärlich Somatischen
rückübersetzt in die verstehbare unbewusste Bedeutungsvielfalt
seiner psychosomatischen Ursprünge und Ausdrucksformen«, was
voraussetzt, dass es zuvor eine Übersetzung des Seelischen in das
Körperliche gegeben haben muss. Tillmann beschreibt in seinem
Vorwort eindrucksvoll, was ihn zu den Veröffentlichungen gebracht
hat: So schildert er spürbar seine engagierten, lange oft
ohnmächtig erlebten, aber ihn immer wieder fesselnden
therapeutischen Begegnungen mit Tinnituspatienten. Da er die
gängigen Vorgehensweisen bei seinen Patienten als unzureichend
erlebte, ließ sich der ausgebildete Psychoanalytiker in der
Therapie und in der Verfolgung des Themas vor allen Dingen durch
die Wahrnehmung seiner in der Patientenarbeit ausgelösten Gefühle
(Gegenübertragung) leiten, um sich so zunehmend einen eigenen
Zugang erarbeiten zu können. Als Fragen kamen auf: Verweist die
Tinnitus-Symptomatik auf einen entgleisten präverbalen Dialog?
Ermöglicht das hartnäckig resistente Symptom einen Zugang zum
»Unerhörten«? Tillmann vermutet nun zugespitzt, dass im Symptom
Tinnitus auf der gesellschaftlichen Ebene Konflikte »zum Klingeln«
kommen können. In der symbolischen Körpersprache zeige sich der
ohnmächtig verzweifelte Protest gegen eine zunehmende
Individualisierung, kompromisshart ausgedrückt durch ein quälendes
und zugleich verbindendes Symptom in präsymbolischer Sprache. So
könne das Brummen die Angst vor Entwertung und Überflüssigsein in
somatisierter Form in einen vorsprachlichen und averbalen Ausdruck
bringen. Das Symptom entspreche einem zunehmenden Bedürfnis nach
Intimität, das mittels einer Not-Abschaltung bzw. einer
Not-Verstopfung gesucht werde. Dabei sei die Wahl dieses
verborgenen, versteckten Ortes, des Ohres, eine kreative,
unbewusste Wahl angesichts einer »grenzenlosen Kultur ohne Scham
und Respekt«. Tillmann diskutiert weiter, ob »das Leben im Ohr« ein
Ersatz werden kann für ein emotionales Leben, das auf verschiedenen
Ebenen Bedeutung erhalten kann. Im Buch leitet Tillmann mit einer
Geschichte des Hörens aus somatischer und medizinischer Sicht sowie
einer medizin- und psychotherapiehistorischen Betrachtung ein. Nach
einer kurz gehaltenen Darstellung medizinischer Behandlungsformen,
die schon sehr zugespitzt ist auf die Sichtweise Tillmanns, führt
er ausführlich analytische Erklärungsmodelle auf. In der konkreten
Therapie geht es - wie bei den HNO-ärztlichen und
verhaltenstherapeutischen Ansätzen – zunächst darum, dem Symptom
seine Bedrohlichkeit und darüber hinaus auch die psychisch erlebte
Fremdheit zu nehmen, wenn im therapeutischen Prozess »Schwankungen
und Rhythmen der Symptomatik bewusst gemacht und nachvollziehbar
werden«. So diskutiert er sowohl Freuds erste Vermutungen wie die
Überlegungen seines Leibarztes Max Schurs zur Möglichkeit der
Somatisierung von psychischen Prozessen und deren Resomatisierung
bei seelischer Not und die Ansätze französischen psychosomatischen
Schule um Lacan. Beeindruckend ausführlich berichtet Tillmann dann
einen sich über viele Jahre erstreckenden psychoanalytischen
Prozess, insbesondere in der Begegnung des Therapeuten mit dem
Patienten. Tillmann entschlüsselt mit dem Patienten, was sich
psychodynamisch und gesellschaftlich hinter der Symptomatik
verbergen kann. Hilfreich für den Leser ist eine Grundvertrautheit
mit der von Tillmann benutzten analytischen Denk- und
Ausdrucksweise, um den Autor so verstehen zu können, wie er es wohl
gemeint hat. Wer sich darauf einlassen mag, kann nutzbringend für
seine Patienten, zumindest im Hinterkopf, nach dem oft für den
Patienten und oft auch für den Therapeuten unbewussten Sinn des
Leidens fragen. Dann kann er mit ihm erarbeiten, wie eine Brücke zu
dem möglicherweise eingekapselten emotionalen Erleben im
Unbewussten hergestellt werden kann, was dann genutzt werden kann,
um nicht mehr den Tinnitus, sondern das eigentliche Thema mit den
verfügbar gemachten seelischen Ressourcen anzugehen. Dazu ist
allerdings kein Weghören im Sinne der Habituation, sondern ein
Hinhören und Sich- Hinwenden notwendig, um die persönlichen
Bedeutungen der Erkrankung, die im körperlichen und im Tinnitus
eingeschlossen sind, zur Sprache kommen zu lassen. Insgesamt
handelt es sich um ein pointiertes Buch, das in der Vielzahl der
Tinnitus-Literatur eine exponierte Stellung einnimmt und hier den
Akzent sehr deutlich auf den psychoanalytischen Aspekt legt.
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