Rezension zu Psychoanalyse als Erzählkunst und Therapieform
AKJP (Analytische Kinder- und Jugendlochen-Psychotherapie) 41(3), 2010
Rezension von Annegret Wittenberger
Dies ist das dritte Buch von Antonino Ferro, das der
Psychosozial-Verlag veröffentlicht – dankenswerterweise, denn so
wird auch bei uns in Deutschland die kreative Weiterentwicklung der
Theorie Bions durch den Analytiker aus Padua zunehmend mehr
bekannt. Ferro hält Bions »Modell« der Beta- und Alpha-Elemente
sowie der Alpha-Funktion für »hinreichend nützlich« zur
Beschreibung eines psychischen Funktionszusammenhangs. Er verwendet
ausdrucksstarke Bilder, indem er bspw. Panikattacken mit einem
verheerenden Vulkanausbruch vergleicht: Beta-Elemente finden keinen
Abfluss in einer Alpha-Funktion, die sie aufzunehmen und zu
transformieren in der Lage wäre, und so überfluten sie den Geist.
Ferro sieht das Problem des Menschen in seinem Geist, nicht in
seinen Trieben. Die Dysfunktion des Geistes ist es, die zu Gewalt
und Zerstörung führt, weil primitive Empfindungen nicht in einem
»Apparat zum Denken der Gedanken« gehalten und kreativ
weiterentwickelt werden können. Der Geist braucht, um sich zu
entwickeln, jahrelange Pflege und Achtsamkeit. Der Patient kommt in
Analyse, weil er keinen Ort für bestimmte Empfindungen in sich hat,
oft mit der Erwartung, dass er in der Analyse gesunden würde, wenn
er diese ihn quälenden Emotionen loswürde. Ferro sieht jedoch
seelische Gesundheit darin, in sich über einen Ort für diese Dinge
zu verfügen, wo sie metabolisiert werden können (Bions
Container-Contained-Modell). Diesen Ort findet der Patient zunächst
in der analytischen Situation, im bipersonalen Feld. Die Krankheit
des Patienten muss »das Feld infizieren. Das Feld muss also
gewissermaßen die Krankheit des Patienten übernehmen und selbst
erkranken. Und da setzt dann eine Transformation des Feldes an, die
zu dessen Heilung führt. Ist diese Heilung vollzogen, wird sie vom
Patienten in seine Innenwelt introjiziert und in seine
Lebensgeschichte reintegriert« (S. 14).
Das Feld ist in Ferros relationaler Perspektive ein ungeheuer
komplexes, in ständiger Fluktuation befindliches Gewebe,
durchkreuzt und konstituiert durch emotionale Kraftlinien,
Turbulenzen und Protoemotionen, ein Ort aller historischen und
phantasiebezogenen Niederschläge von Patient und Analytiker. Beide
sind zugleich Absender und Empfänger von Botschaften (anders als
bei Freud und Melanie Klein, wo ein Absender eine Botschaft an
einen Empfänger schickt, der sie dann entschlüsselt). Ferro
vergleicht die Strukturierung dieser Botschaften mit einer Partitur
für ein Stück zu vier Händen, dessen Autor gleichzeitig Publikum,
Aufführender und Kritiker ist. Im Feld entwickelt sich eine
gemeinsame Erzählung dadurch, dass beide, Patient und Analytiker,
»sich erlauben, frei umherzuschweifen zwischen den möglichen
Welten, die der emotionale Kontext des Augenblicks nahe legt« (S.
149). Dabei ist dennoch eine gewisse Asymmetrie notwendig, da die
Verantwortung für den Fortgang der Analyse beim Analytiker liegt
und er dafür sorgen muss, dass die Entwicklung der im Feld
auftauchenden Geschichten in der Richtung von Beta nach Alpha
verläuft, um Nicht-Denkbares für den Patienten denkbar zu machen,
in Übereinstimmung mit der Geschichte und der Innenwelt des
Patienten, und dass diese Geschichten nicht zur Bestätigung der
Theorien des Analytikers dienen.
Große Aufmerksamkeit widmet Ferro der Deutung: diese gilt nicht
einem zunächst vorhandenen und dann verloren gegangenen Text, den
der Analytiker als neutraler Interpret aufdecken und enthüllen
sollte, sondern einem »Text als Funktion der jeweiligen
Interaktionen zwischen Analytiker und Patient, sowie des
emotionalen Feldes, das sie im analytischen Setting ins Leben
rufen« (S. 20). Im Oszillieren zwischen der »negativen Fähigkeit«,
also seinem Verharren im Zweifel und damit seiner Bereitschaft zur
Öffnung auf unendliche Geschichten einerseits und der Option auf
eine »ausgewählte Tatsache« andererseits findet der Analytiker eine
Deutungshypothese, die das Verstreute in einer »Gestalt« (Ferro
benutzt hier das deutsche Wort) vereinigt. Dabei bevorzugt Ferro
»ungesättigte« Deutungen, die im Feld eine Transformation
herbeiführen und die Aufnahmefähigkeit des Patienten (seine
Alpha-Funktion und seinen Apparat zum Denken der Gedanken)
berücksichtigen. Alle Antworten des Patienten versteht er als
Hinweise, ob ihm dies gelungen ist. Dafür bringt er, wie in seinen
früheren Büchern, wieder eine Fülle von Beispielen, wobei es ihn
nicht stört, besonders prägnante auch mehrmals zu berichten, wie
etwa das eines Jungen, der ihm nach einer vorschnellen und von Sinn
gesättigten Übertragungsdeutung antwortete: »Ich habe im Fernsehen
Wissenschaftler gesehen, die ein Ei in kleine Scheibchen
geschnitten haben, um zu sehen, was drin war. Schade, denn sie
haben damit das Küken daran gehindert, aus dem Ei zu schlüpfen« (S.
18 und 67). Im gleichen Sinn versteht er die Antwort eines,
vermutlich erwachsenen, Patienten »auf eine gesättigte
Übertragungsdeutung, die eine weitere Kommunikation abblockte«:
»Ich habe gesehen, wie Medizinmänner mit bloßen Händen eine
Antilope zerrissen, um die Eingeweide des Tieres zu betrachten und
daraus etwas wahrsagen zu können. In keiner Weise schienen sie in
Betracht zu ziehen, dass sie ein Lebewesen töteten« (S. 27). So
zeigt Ferro auch wieder (wie schon in früheren Veröffentlichungen),
wie Deutungen das Geschehen eher vorschnell sättigen und
verschließen, indem er z. B. Spielsequenzen aus eigenen, Jahre
zurückliegenden Analysen vorstellt und Überlegungen anstellt, wie
er heute damit umgehen würde. Unter diesem Blickwinkel versteht er
auch die Antworten von Melanie Kleins berühmtem kleinen Patienten
Richard als Mitteilungen, wie er die gesättigten Deutungen seiner
Analytikerin erlebt, z. B. sagt Richard nach einer solchen Deutung:
»Menschen reisen in verschiedene Richtungen.« Wenn der Analytiker
durch nicht hinreichend durchdachte Deutungen die Alpha-Funktion
des Patienten oder das Fassungsvermögen seines Apparates zum Denken
der Gedanken (Container) aufs Spiel gesetzt hat, kommt es zum
Agieren: Agieren zeigt eine Dysfunktion des Feldes an (Überschuss
von Beta-Elementen, unzureichende Alpha-Funktion). Die nicht
transformierten Beta-Elemente müssen ausgestoßen werden durch den
Körper (Delinquenz, Charakterpathologie) oder im Körper
(psychosomatische Erkrankung).
Die Eigenart Ferros, seine ungeheuer komplexen Gedanken sozusagen
spiralförmig zu entwickeln, seine Themen immer wieder neu zu
umkreisen und auch vor Wiederholungen nicht zurückzuschrecken,
erinnert mich an Melanie Kleins Modell der kindlichen Entwicklung,
das auch nicht geradlinig progressiv wie das Phasenmodell Freuds
voranschreitet, sondern das die Psyche als eine Art brodelnde
Ursuppe erscheinen lässt, in der alles von Anfang an vorhanden ist
und die verschiedenen Bestandteile unentwegt hochkochen und wieder
verschwinden, und in deren Theorie seelische Reifung nicht im
Erreichen einer höheren Stufe besteht, sondern in der Integration
und der Fähigkeit, zwischen den Positionen zu oszillieren. Damit
macht er es seinen Lesern nicht immer leicht. Doch seine
Kreativität, seine bildhaften Formulierungen und die vielen
anschaulichen Beispiele aus seinen Kinder- und Erwachsenen-Analysen
entschädigen für die Anstrengung, die seine Lektüre mir als Leserin
stellenweise abverlangt. Faszinierend ist für mich besonders seine
Fähigkeit, die Erzählungen, Bilder, Handlungen der Patienten zu
verstehen als Mitteilungen über die Dynamik im Feld. Dabei
interessieren ihn die Besonderheiten des jeweiligen analytischen
Paares mehr als die altersspezifischen Unterschiede der Patienten.
Er sieht, trotz Unterschieden, substantielle Ähnlichkeiten in der
Analyse mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Es ändert sich
lediglich die Geschichte, wie sie erzählt wird (in Spiel, Traum,
Zeichnung, Bericht), nicht das Grundschema der Narration und der
geistige Austausch zwischen Patient und Analytiker. Ferro begegnet
allen seinen Patienten, gleich welchen Alters, mit derselben
analytischen Haltung. Mehr von diesem analytischen Geist würde ich
mir auch in unseren Instituten wünschen: dass wir als Analytiker
gemeinsam die Psychoanalyse lernen, praktizieren, diskutieren,
lehren und weiterentwickeln, egal ob wir mit Kindern oder
Erwachsenen arbeiten.