Rezension zu Psychodynamische Psychiatrie
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Rezension von Ann-Katrin Günter
Das Buch »Psychodynamische Psychiatrie« von Glen O. Gabbard
erscheint in der Reihe »Bibliothek der Psychoanalyse« in deutscher
Übersetzung erstmals 2010 und gebunden im Psychosozial-Verlag.
Es beinhaltet 19 Kapitel, die in drei Teile gegliedert sind: I.
Grundlegende Prinzipien und Behandlungsansätze in der dynamischen
Psychiatrie, II. Psychodynamische Ansätze bei Achse-I-Störungen und
III. Psychodynamische Ansätze bei Achse-II-Störungen.
Als ich das Buch zum ersten Mal in Händen halte, fällt mir sofort
die ansprechende Gestaltung, nebst solchen – bei einem Lehrbuch
nicht ganz unwichtigen – Aspekten wie angenehme Schriftart und
Schriftgröße auf.
Bei der weiteren Orientierung in dem ca. 700 Seiten umfassenden
Werk, fallen mir weiterhin sofort die kleinen Zitate auf, die
einigen Kapiteln voranstehen, und wirklich Lust auf weiterlesen
machen!
So beginnt beispielsweise das Kapitel über die »Psychodynamische
Beurteilung des Patienten« mit einem Zitat des Psychologen William
James: »Wenn sich zwei Menschen begegnen, sind in Wirklichkeit
sechs Personen anwesend: jeder wie er sich selbst sieht, jeder, wie
ihn der andere sieht und jeder so, wie er wirklich ist.«
Im weiteren Verlauf des Kapitels geht Gabbard dann auf besondere
Aspekte einer psychodynamischen Beurteilung des Patienten, vor
allem im – für viele psychodynamische Theorien so wichtigen –
Erstinterview bzw. der Erstanamnese, ein. Abschließend findet man
eine praktische Tabelle mit den wichtigsten Aspekten, die zuvor
ausführlich behandelt wurden, die man bei einer
Patientenbeurteilung beachten sollte.
Einen wichtigen Hinweis für interessierte Leser – der leider sowohl
im Vorwort als auch im Klappentext fehlt – stellt meiner Meinung
nach die Tatsache dar, dass sich das Buch ausschließlich an den
diagnostischen Leitlinien des amerikanischen Klassifikationssytems
DSM-IV orientiert und nicht an der in Deutschland auch oft
angewendeten ICD-10 (International Classification of Diseases). Am
Aufbau des DSM-IV angelehnt ist auch die oben erwähnte Einteilung
des Buches in die sogenannten „Achse I“ und „Achse II“- Störungen.
Achse I-Störungen bzw. Teil II des Buches beinhalten dabei die –
meist als Hauptstörung diagnostizierten – klinischen Störungen wie
beispielsweise Schizophrenie, Angststörungen, dissoziative
Störungen, Demenz etc.
Achse II bzw. Teil III hingegen umfasst die verschiedenen
Persönlichkeitsstörungen, wie beispielsweise die
Borderline-Störung, die narzisstische oder die histrionische
Persönlichkeitsstörung.
Weiterhin bemerkt man beim Lesen doch den Schwerpunkt Gabbards –
auch erkennbar an seinen zahlreichen Publikationen in diesem
Bereich – auf die neuropsychologischen Aspekte vieler Krankheiten.
Schon im Einleitungskapitel »Grundlegende Prinzipien der
psychodynamischen Psychiatrie« wird ausführlich auf
neuropsychologische Aspekte in diesem Zusammenhang eingegangen.
Das zweite Kapitel mit der Überschrift »Theoretische Grundlagen der
dynamischen Psychiatrie« ist meiner Meinung nach – trotz der
»Grundlagen«-Betonung – eher für Leser geeignet, die ihr
psychodynamisches Grundwissen noch einmal auffrischen oder
aktualisieren wollen. Für Neueinsteiger sind hier viele Konzepte,
wie beispielsweise das Konzept der »projektiven Identifizierung«
von Melanie Klein sicher nicht auf Anhieb verständlich. Leider fand
ich es auch hier vor allem verwirrend, dass es keine Unterkapitel
im Buch gibt, die nummeriert sind. Zwar gibt es hier zur
Orientierung verschieden Schriftgrößen, doch manchmal weiß man nie
so recht, ob man sich jetzt gerade bei einem neuen Unter- oder
Oberpunkt beschäftigt.
Während die restlichen Kapitel von Teil I den besonderen
Behandlungsumständen von Einzel-Gruppen-, Familien-, oder
Ehetherapien gewidmet ist, befassen sich Teil II und III dann
ausführlich in insgesamt 13 Kapiteln mit den oben bereits
aufgezeigten klinischen bzw. Persönlichkeitsstörungen.
Hier lässt sich – trotz der verschiedenen Aspekte, die jede Störung
jeweils mit sich bringt – doch ein gewisser Grundaufbau der meisten
Kapitel feststellen. Neben kurzen einführenden allgemeinen
Überlegungen, inklusive den jeweiligen DSM-IV Kriterien zur
Diagnosestellung, findet man zuerst ausführliche psychodynamische
Überlegungen zur jeweiligen Störung, gefolgt von den Möglichkeiten,
Chancen und Grenzen unterschiedlich konzipierter
Behandlungskonzepte (hier findet man beispielsweise auch im Kapitel
zur Schizophrenie ausführliche Informationen zur Pharmakotherapie
solcher Patienten). Die Hinweise zur Behandlung gestalten sich zum
einen eher allgemein, aber auch vereinzelt recht konkret. So findet
man beispielsweise im Kapitel über »Paranoide, schizoide und
schizotypische Persönlichkeitsstörungen« eine sechs Punkte
umfassende Liste mit recht fassbaren Interventionshinweisen zur
Verhütung von Gewalt bei paranoider Persönlichkeitsstörung.
Zusätzlich werden in jedem Kapitel auch speziellere Aspekte der
jeweiligen Störung behandelt, ein Beispiel hierfür wäre die
spezielle Berücksichtigung der Übertragungs- bzw.
Gegenübertragungssituation bei der Behandlung dissoziativer
Persönlichkeitsstörungen.
Wirklich sehr zu empfehlen sind die bereits erwähnten
psychodynamischen Aspekte der jeweiligen Störungsbilder, die
Gabbard – auch für einzelne Untertypen von Störungen – umfassend
darstellt. Sie stellen neben der an vielen Universitäten vermehrt
verhaltenstherapeutischen Auseinandersetzung ein besonders
wertvolles Gegenstück im Hinblick auf ein ganzheitlich
ätiologieorientiertes Verständnis psychischer Störungen dar.
Nahezu jede Störung bzw. deren Behandlung wird im jeweiligen
Kapitel durch anschauliche, zum Teil mehrere Seiten lange
Fallbeispiele illustriert.
Für den Leser, der sich vertieft mit dem jeweiligen Thema
beschäftigen möchte, stehen jedem Kapitel ausführliche
Literaturverzeichnisse an.
Unter Berücksichtigung des Aspekts, dass es sich bei dem Buch
explizit um ein Lehrbuch handelt, habe ich etwas die dafür oft
verwendeten didaktischen Mittel vermisst. So findet man zwar
anschauliche Grafiken, aber wenig als solche gekennzeichnete
Definitionen, Zusammenfassungen, Lehrsätze etc. Einen kleinen
Abzugspunkt gibt es auch noch dafür, dass das Seitenlayout sehr
wenig Platz für Kommentare bietet, wenn man als Leser „aktiv“ mit
dem Buch arbeiten möchte.
Mein Fazit: Endlich ein umfangreich fundiertes Buch zur
psychodynamischen Psychiatrie, das auch auf Deutsch erscheint! Vor
allem die Teile II und III stellen meiner Meinung ein absolutes
Muss für Personen dar, die sich im beruflichen Umfeld mit
psychiatrischen Krankheiten konfrontiert sehen und trotz des
Zeitgeistes einer immer schnelllebigeren medizinischen Versorgung,
die wertvollen Möglichkeiten und Chancen für Patient und Arzt
nutzen wollen, die eine Einbringung psychodynamischer Aspekte in
den Klinikalltag mit sich bringt. Ich wäre erfreut, wenn dieses
Buch als Ergänzung zu den vornehmlich
verhaltenstherapeutisch-orientierten Lehrbüchern von einigen
Universitäten mit in die Curricula aufgenommen werden würde.
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