Rezension zu Schreiben als Therapie, Schreiben statt Therapie: Varianten der Wunscherfüllung in fiktionaler Prosa (PDF-E-Book)

Jahrbuch für Literatur und Medizin 11 Bd.3

Rezension von Florian Steger

In Texten steckt viel Lebenswelt. Texte sind Schätze lebensweltlicher Erfahrung. Dies gilt für fiktionale wie für faktuale Texte und kann ganz allgemein auf Narrative erweitert werden. Narrative sind also lebensweltliche Reservoirs, voll von Alltag und Moral. An Narrativen kann ethische Kompetenz entwickelt werden, indem die eigene moralische Identität prozesshaft erlebt, erfahren, ausgelotet wird. Narrative können aber auch therapeutisch fruchtbar gemacht werden.

Im Editorial zu Heft Februar 2008 von »Psychotherapie & Sozialwissenschaft. Zeitschrift für qualitative Forschung und klinische Praxis« liest man unter Bezugnahme auf Goethe (S. 3): »Autoren oder Mentoren können das Publikum auf direktem Weg einladen, sich als Lesende emotional zu engagieren.« Ähnliches hat Aristoteles in seiner Tragödientheorie formuliert, wenn Handlungen und Figuren so zu entwerfen seien, dass den Zuschauer »eleos« und »phobos« packen möge. Der Zuschauer soll bekanntermaßen der inszenierten Handlung so teilhaftig werden, dass er gereinigt wird (»katharsis«). In der Literaturwissenschaft spricht man heute vom impliziten Leser, dem beim Leseprozess ähnliches widerfährt, indem seine Geschichte rekonstruiert wird, oder - anders ausgedrückt - er sein Leben erfährt. Der Leser wird also zum narrativen Mitgestalter. Lesen hat damit Identität stiftende Bedeutung sei es für den einzelnen, sei es für eine ganze Gruppe, denkt man an die Modellhaftigkeit mancher narrativer Muster. Darauf hat freilich auch Freud am Beispiel des Ödipus hingewiesen, wenn der Rezipient des Ödipus emotional teilhaftig wird. So wird der Ödipus durch den Einzelnen (wieder) lebendig und an die Realität gebunden.

Es stellt sich die Frage, wie von diesen verschieden medial inszenierten Narrativen, Mustern und Motiven Gebrauch gemacht wird. Hier kann, über das kulturwissenschaftliche Beschreiben und Verstehen hinaus, qualitiative Forschung Antworten geben, und in Heft Februar 2008 von Psychotherapie und Sozialwissenschafi sind hierzu empirische Einzeluntersuchungen vereint: Odag geht der Frage nach einer Geschlechter differenten Rezeptionspräferenz empirisch nach; dabei werden Rezeptionsprozesse im aktuellen Leseereignis erfasst: Männer sind emotional sehr engagierte Leser, sie konzentrieren sich auf Handlung und Dramaturgie; Frauen dagegen begleiten vor allem Schicksale bestimmter Figuren und Charaktere. Gleichwohl konnte in der Studie bei der Reaktion auf Merkmale der Textgattung kein geschlechtsdifferenter Unterschied festgestellt werden, vielmehr hatten alle Probandinnen und Probanden einen sensiblen Umgang mit dem Angebot aktiver Lektüre. Von Wyl stellt in ihrer empirischen Untersuchung dar, wie Kinder narrative Kompetenz in Verbindung mit anderen geistigen Fähigkeiten erwerben. Lätsch geht in einem konzeptuellen und qualitativen Ansatz dem Wunsch als Triebfeder und als Thema für Dichter nach, wie dies Freud postuliert hatte. Weilnböck arbeitet den Bezug zwischen der einzelnen lebensgeschichtlichen Erfahrung einer Frau und dem subjektiven Erleben eines medial vermittelten Stoffes qualitativ heraus. In den Beiträgen werden also auf der Basis empirisch gewonnener Daten mit qualitativer Methodik Antworten zum emotionalen Engagement im Umgang mit Medien und seinem therapeutischen Potential gegeben, wie dies der Zielsetzung der Zeitschrift entspricht.

»Psychotherapie und Sozialwissenschaft. Zeitschrift für qualitative Forschung und klinische Praxis« feiert mit Heft Januar 2009 sein zehnjähriges Jubiläum; die Zeitschrift wird heute von Brigitte Boothe, Jörg Frommer, Bernhard Grimmer, Jürgen Straub und Ulrich Streeck herausgegeben. Seit Anfang der 1990er Jahre waren Primärdaten des psychotherapeutischen Prozesses zum Gegenstand der Psychotherapieforschung geworden. Es entstanden Orte, an denen methodische Reflexion und Präsentation solcher Forschungsergebnisse möglich wurden; »Psychotherapie und Sozialwissenschaft« legte 1999 das erste Heft vor. Eine sozialwissenschaftliche Perspektive auf psychotherapeutische Prozesse musste sich erst etablieren. Klinisch-psychologische und erst recht -psychoanalytische Blicke hatten sich an sozialwissenschaftliche zu gewöhnen. Bei »Psychotherapie und Sozialwissenschaft« stand von Anfang an die Methodenorientierung im Mittelpunkt, und dabei wurde der Fokus auf qualitiative Forschung gelegt, nicht zuletzt, da mit qualitativen Ansätzen schwer abbildbare Phänomene, wie beispielsweise das subjektive Erleben, subtil erfasst werden können. »Im engeren Sinne geht es also letztlich weder um Beschreiben und Abzählen von Gegenstandsmerkmalen noch um die freie Mitteilung des subjektiven Eindrucks, den der Betroffene beim Forscher hinterlassen hat, sondern um Formen des methodisch kontrollierten Zugang zu fremden Erfahrungsräumen« (Bohnsack et al., 2007).
Psychotherapie und qualitative Forschung haben schon allein dadurch Gemeinsamkeiten, dass Psychotherapie gleichermaßen Krankenbehandlung und soziales Ereignis ist. Dass dann auch noch die Brücke zu den Kulturwissenschaften geschlagen wird, wie beispielsweise im Heft vom Februar 2008 geschehen, ist besonders erfreulich.
Sozial- und Kulturwissenschaften können voneinander lernen, beide haben sich etwas zu sagen und beide können methodisch different gewonnene Ergebnisse zu gemeinsamen Fragen gewinnen, wie dies beispielsweise beim emotionalen Umgang mit Narrativen (textgebunden oder nicht) der Fall ist. Es bleibt zu wünschen, dass diese methodisch unterschiedlichen Ergebnisse gleicher inhaltlicher Thematik in einen Dialog gebracht, berücksichtigt und verstanden werden. Will man ernsthaft darum bemüht sein, Menschen in ihren subjektiven Ausdrucksformen, in ihrem Interagieren mit anderen, in ihrem Erleben und Erfahren von Fremdem bzw. Anderem und nicht zuletzt sich selbst zu verstehen, und setzt man sich ernsthaft zum Ziel, diese Erkennensprozesse wissenschaftlich fundiert zur Diskussion zu stellen, wird man an einem Dialog mit vielen nicht herumkommen. Dabei werden zumindest biologisch, sozialwissenschaftlich, aber auch kulturwissenschaftlich fundierte Perspektiven zu berücksichtigen sein.

zurück zum Titel