Rezension zu Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind

Unsere Kinder. Das Fachjournal für Bildung und Betreuung in der frühen Kindheit 5/2009

Rezension von Barbara Tambour

Anleitung zur Kaltherzigkeit
Säuglingspflege im Nationalsozialismus

Barbara Tambour im Gespräch mit der Sozialpädagogin Sigrid Chamberlain

Sigrid Chamberlain, geboren 1941, hat als Sozialarbeiterin bzw. Sozialpädagogin (in Kinderheim, Krabbelstube und mit Obdachlosen) und als Supervisorin gearbeitet. Einen Großteil ihres Lebens beschäftigte sie sich mit dem Thema Erziehung. Sie hat zwei eigene Kinder und ein Pflegekind erzogen, lebt in Frankfurt am Main und veröffentlichte im Psychosozial Verlag das Buch »Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind. Über zwei NS Erziehungsbücher«.

Im Frühjahr 2009 sprach sie bei einer Fortbildung in der Steiermark über die langen Schatten der Erziehung von damals, die auch in der Kindergartenpädagogik bis heute nachwirken. Die deutsche Journalistin Barbara Tambour führte mit Sigrid Chamberlain das folgende Interview.

Frau Chamberlain, Sie haben über Säuglingspflege im Nationalsozialismus geforscht. Warum ist Ihnen dieses Thema wichtig?

Chamberlain: Zunächst aus persönlichen Gründen. Im Laufe meines Lebens und meines Umgangs mit kleinen Kindern merkte ich, dass ich bestimmte Dinge einfach nicht konnte: Es ist mir zum Beispiel nicht gelungen, meine Kinder, wenn sie sehr traurig waren, zu trösten. Das hat mich sehr beschäftigt, und irgendwann dachte ich mir: Die Ursache muss in meiner eigenen Kindheit liegen.

Was betrachten Sie als Ursache dafür, dass Sie Ihre Kinder nicht gut trösten konnten?

Chamberlain: Um darauf eine Antwort zu finden, brauchte ich die Unterstützung einer Psychotherapeutin. Meine Mutter war sehr, sehr streng. Weinen und jeglicher Gefühlsausdruck waren bei ihr verboten. Ich erinnere mich an eine Szene, als ich zwei Jahre alt war: Eine Wespe summte um mich herum, ich hatte Angst, wollte weinen. Meine Mutter stand mit erhobener Hand vor mir, drohte zuzuschlagen, wenn ich anfinge zu weinen. Traurigkeit, Angst, Erschrecken waren bei ihr absolut verboten. Auch wenn ich mir wehgetan hatte, konnte ich von ihr kein Mitgefühl erwarten. Hilfe und Unterstützung gab es nicht. Eher schlug sie zu.

Was hat die Psychotherapie für Sie verändert?

Chamberlain: Sie hat mir zu mehr Distanz verholfen. Ohne sie hätte ich das Buch über die Säuglingspflege im Nationalsozialismus nicht schreiben können. So aber habe ich viele Men¬schen kennengelernt, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Leute, die sagen: Das kenne ich. Heute kann ich mit meinen Kindheitserinnerungen besser umgehen.

Gab es eine ausgesprochen nationalsozialistische Säuglingspflege und Kleinkind Erziehung?

Chamberlain: Ja, das behaupte ich. Ein wirklicher Nationalsozialist ist nicht vorstellbar ohne das Bedürfnis, andere auszugrenzen und grausam mit anderen Menschen umzugehen. Ein solches Verhalten ist aber nicht vorstellbar ohne eine grundsätzliche Bindungslosigkeit und ein hohes Maß an Gefühllosigkeit. Genau darauf, auf Gefühllosigkeit und Bindungslosigkeit, laufen die Ratschläge in dem 1934 von der Ärztin Johanna Haarer (Anm: siehe Manfred Bergers Beitrag auf S.12) verfassten Ratgeber »Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind« hinaus. Er ist gewissermaßen eine Anleitung zu Kaltherzigkeit und Beziehungsarmut. Diesen weit verbreiteten Ratgeber zur Säuglingspflege, von dem bis Kriegsende 690.000 Exemplare verkauft wurden, habe ich untersucht.

Was rät die Autorin Haarer der jungen Mutter?

Chamberlain: Das Kind soll tags wie nachts in einem stillen Raum für sich sein. Die Trennung von Familie und Kind beginnt gleich nach der Geburt: Sobald der Säugling gewaschen, gewickelt und angezogen ist, soll er für 24 Stunden allein bleiben. Erst danach soll er der Mutter zum Stillen gebracht werden. Von der ersten Minute des Lebens an wurde also alles getan, um die Beziehungsunfähigkeit zu fördern. Alles war verboten, was Beziehung förderte.
Denn das Hauptziel bestand darin, die Beziehung zwischen der Mutter oder den Eltern und dem Kind gar nicht erst entstehen zu lassen. Diesem Zweck dienen auch Haarers Forderungen, keine Zeit gemeinsam zu verbringen außer beim Füttern, Windelwechseln, Anziehen, Baden. Dafür aber waren genaue Zeitspannen vorgegeben. Das Füttern mit der Flasche sollte keinesfalls länger dauern als zehn Minuten, das Stillen nicht länger als zwanzig Minuten. Wenn das Kind »bummelt« oder »trödelt«, soll das Füttern oder Stillen abgebrochen werden. Essen gibt es erst wieder bei der nächsten planmäßigen Mahlzeit. Hat das Kind bis dahin Hunger, geschieht es ihm erstens recht und zweitens lernt es dann, dass es sich beim nächsten Mal mehr beeilen muss.

Und wenn ein Baby schreit?

Chamberlain: Wenn es schreit, soll man es schreien lassen, weil es sonst verwöhnt wird, Haarer schreibt, wenn man auf das weinende Kind eingehe, ziehe man sich in kürzester Zeit einen unerbittlichen Haustyrannen heran. Sie warnt ausdrücklich davor, das Kind aus dem Bett zu nehmen oder herumzutragen.

Was erlebt ein Kind, wenn es schreit und niemand kommt, niemand es hochnimmt? Welche Folgen hat das?

Chamberlain: Das Baby hat Todesangst wegen des Hungers, denn es weiß ja nicht, ob es überhaupt noch etwas bekommt. Und es erleidet die sogenannte Körperkontakt Verlustangst, ebenfalls eine Todesangst. Jedes Lebewesen braucht die Berührung, den Körperkontakt, sonst stirbt es. Kinder, denen dieser Kontakt verweigert oder bei denen er zeitlich so knapp bemessen wird, wie von Haarer empfohlen, überleben schwerer. Auch das passte zum System.

Aber waren solche Ansichten wie etwa, dass Kinder nicht verwöhnt werden sollen oder dass lautes Schreien die Lungen kräftige, zu dieser Zeit nicht Allgemeingut?

Chamberlain: Es gab durchaus Ärzte und Hebammen, die gegen die Trennung unmittelbar nach der Geburt waren, weil sie wussten, dass dadurch der natürliche Stillprozess schwerer in Gang kommt. Und es gab völlig andere, gewaltfreie Vorstellungen zur Kindererziehung. Auch Frau Haarer kannte andere, gewaltfreie und beziehungsvolle Ansätze zur Säuglingspflege und zur Erziehung. Sie polemisiert dagegen und tut sie als »jüdischen Quatsch« ab.

Warum waren Haarers Bücher so erfolgreich?

Chamberlain: Sie kamen einem gewissen Bedürfnis entgegen und erschienen in einem der damals größten und mächtigsten Verlage. Der Säuglingsratgeber wurde im ganzen Reich in den Mütterschulungen der NS Frauenschaft verwendet. Bis April 1943 wurden diese Kurse von rund drei Millionen Frauen besucht.

Und die Mehrheit der Mütter hat daraufhin ihre Babys schreien lassen, nach Zeitplan gefüttert und ins stille Zimmer abgeschoben? Hat sich dieser Erziehungsstil wirklich durchgesetzt?

Chamberlain: Prozentual lässt sich das natürlich nicht sagen. Aber eine große Rolle hat er auf jeden Fall gespielt, das schließe ich aus den Reaktionen auf mein Buch. Mir haben viele Menschen geschrieben und sich dafür bedankt, dass sie bestätigt bekommen haben, woran sie sich diffus erinnerten, was sie belastete, wofür sie bislang aber keine Worte und keine Erklärung hatten. Auch Therapeuten haben mir bestätigt, dass sie das, was ich beschreibe, von ihren Klienten her kennen.

Wie entsteht eigentlich normalerweise eine gesunde Mutter Kind Bindung?

Chamberlain: Indem die Mutter das Kind im Arm hält, streichelt, es stillt, es anschaut und mit ihm spricht. Die ersten dreißig Minuten nach der Geburt sind von entscheidender Bedeutung: In dieser Zeit können sich Mutter und Kind optimal aufeinander einstellen - wenn man sie denn lässt. Durch diesen ersten Kontakt wird das gesamte Nervensystem des Kindes stimuliert, wichtige Körperfunktionen wie der Saugreflex werden angeregt. Dieser frühe, intensive Kontakt und die daraus resultierende Mutter Kind-Bindung hat auch Folgen für die Frau: Er birgt die Chance zu einer besseren Beziehung, weil sie auf dieser Grundlage die Signale ihres Kindes besser versteht.

Und was muss man tun, um eine Mutter Kind-Bindung zu verhindern?

Chamberlain: Man muss von Geburt an möglichst jeden Kontakt unterbinden oder - wenn er unumgänglich ist - ihn reglementieren. Erwachsene, die eine solche Kindheit erlebten, haben oftmals Schwierigkeiten, überhaupt eine enge Beziehung mit einem anderen Menschen einzugehen. Es fällt ihnen schwer, liebevoll, einfühlsam und warmherzig mit ihren Kindern umzugehen. Viele, mit denen ich gesprochen habe, haben berichtet, dass sie oft umgezogen sind und dass sie Schwierigkeiten haben, ihre Wohnung schön und gemütlich einzurichten, dass sie sich also kein Zuhause schaffen können. Auch haben sie das große, nie gestillte Bedürfnis nach Anerkennung und begeben sich deshalb leicht in ein System hinein, das sie scheinbar anerkennt.

Sie schreiben, dass Haarers pädagogische Anleitungen ausdrücklich auf das nationalsozialistische System hin erziehen wollten. Wie kann man sich das vorstellen?

Chamberlain: Indem man Kinder zum Beispiel der Angst, zu verhungern oder verlassen zu sein, aussetzt. Wenn Menschen dies häufig erleben, ohne Trost und Geborgenheit zu erfahren, dann ist die Gefahr groß, dass sie später diese Angst ausleben und sie durch brutale Behandlung, Einschüchterung oder Bloßstellung an andere weitergeben.

Was sagt Johanna Haarer über das etwas ältere Kind, das krabbelt oder schon läuft?

Chamberlain: Das soll die Mutter in den Laufstall setzen, am besten auf dem Balkon oder im Garten. Frische Luft und Sonne hält Haarer für wesentlich wichtiger als die Nähe zur Mutter. Außerdem kann sie ungestörter ihrer Arbeit nachgehen, wenn sie sich durch die räumliche Trennung nicht bemüßigt fühlt, auf irgendwelche Äußerungen des Kindes einzugehen oder sich mit ihm zu beschäftigen. Ein Kind wird als Störung dargestellt und alle Ratschlägen laufen darauf hinaus, dass die Mutter möglichst wenig durch das Kind gestört wird. Aber das stille Zimmer und das einsame Ställchen haben ja nicht nur zu einer emotionalen Austrocknung der Kinder geführt, sondern sie behinderten auch die Entwicklung der intellektuellen Fähigkeiten. Das war durchaus gewollt, die Menschen sollten in gewisser Weise dumm gehalten werden, so blieben sie kritiklos und verführbar.

Zum System gehörte auch die Bloßstellung. Ein 45 Jahre alter Mann erzählte mir, dass in seiner Kindergartenzeit Kinder, die in die Hose gemacht hatten, von den Pädagoginnen beschämt und mehr oder weniger an den Pranger gestellt wurden.

Chamberlain: Pädagoginnen, Säuglingsschwestern, Fürsorgerinnen, die in den 1930er- und 1940er Jahren ausgebildet wurden, haben diesen ganzen Bereich bis in die 1980er Jahre geprägt. Übrigens konnten alle Menschen, die mit kleinen Kindern arbeiteten, nach dem Krieg weiterarbeiten, da gab es so gut wie keine Entnazifizierung.

Wie wirkt die Erziehung zur Gefühlskälte in den nachfolgenden Generationen weiter?

Chamberlain: Jene, die so erzogen wurden, neigen zur Depression. Sie spüren oft eine große Hilflosigkeit, nicht nur in Bezug auf Kinder, sondern auch auf sich selbst. Sie haben das Gefühl, dass das Leben schwer fällt, ohne dass sie dafür eine Erklärung hätten. Ich bin mir sicher, dass die Bewegung der antiautoritären Erziehung eine Reaktion auf jenen Erziehungsstil war. Freilich war sie zu kurz gedacht, denn sie übersah, dass die nationalsozialistische Erziehung nicht nur autoritär war, sondern zur Bindungslosigkeit führen sollte.

Wenn Sie heute noch einmal ein kleines Kind pflegen und erziehen müssten: Was wäre Ihnen aufgrund Ihrer Arbeit und Erfahrung dabei am wichtigsten? Was raten Sie jungen Eltern?

Chamberlain: Ich rate, den Kindern viel Zeit und Körperkontakt zu gönnen, die Kinder auf gar keinen Fall nach Plan zu füttern, sondern deren Signale zu beachten und diese zu lernen. Besonders wichtig ist, ein Kind viel anzuschauen, viel mit ihm zu lächeln, es zu streicheln und in der Babysprache mit ihm zu sprechen, denn die Babysprache entspricht seinen Hörbedürfnissen. Junge Leute sollten dies alles mit gutem Gewissen und Selbstverständlichkeit tun und sich daran freuen. Nähe und Kontakt müssen nicht immer von der Mutter kommen. Sie muss nicht immer da sein, aber es müssen Menschen da sein, denn der menschliche Kontakt ist wichtig.

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