Rezension zu Weibliche Ejakulation
Fokus Beratung. Informationen der Evangelischen Konferenz für Familien- und Lebensberatung e.V. Fachverband für Psychologische Beratung und Supervision. 16. Ausgabe, April 2010
Rezension von Barbara Schneider
»Psychosozial« beschäftigt sich in seiner 117. Ausgabe in seinem
Schwerpunktthema mit den kulturellen, ökonomischen und emotionalen
Auswirkungen der Wiedervereinigung bzw. des Anschlusses der DDR an
die BRD vor allem aus der Sicht der östlichen Bundesländer, aus
denen die meisten der Autoren und Autorinnen stammen bzw. wo sie
leben und arbeiten.
Das Ziel des Schwerpunktthemas ist es, auf die zu beobachtenden
Unterschiede und Erfahrungen sowie auf unterschiedliche Deutungen
der zwanzig Jahre gemeinsamen Geschichte zu blicken (3).
Das Thema ist in zwei Teile gegliedert. Im ersten berichten
AutorInnen aus den östlichen Bundesländern und aus verschiedenen
Generationen sowie zum Teil Mitglieder der Bürgerrechtsbewegung
über Perspektiven des Alltags in der DDR und über Erfahrungen nach
der Vereinigung, wobei die eigenen Erlebnisse mit eingebracht
werden und sich so über dem Cantus Firmus der nicht hinterfragten
Vereinigung ein differenzierter und vielstimmiger Chor erhebt (I.
Mohr, A. Simon, F. Schorlemmer, J. Hein, J. Strittmater). Vor allem
zwei Themen kehren immer wieder: der Eindruck der Dominanz
westdeutscher Deutungen über die Geschichte und die
Verhaltensweisen der DDR und ihrer BürgerInnen vor und nach der
Wende sowie die Auseinandersetzung mit der politischen Idee der
DDR, ihrer Verkehrung und die Erfahrungen eines mehr oder weniger
gelungenen Alltags und Widerstandes.
Den Übergang zum zweiten Teil bietet ein Überblick der Monate von
Mai bis November 1990 aus westlicher Sicht, in dem die Euphorie des
Anfangs widerklingt (P. Bender).
Der zweite Teil besteht aus wissenschaftlichen Untersuchungen zu
Auswirkungen der Vereinigung: H. Berth u. a. haben in einer
Längsschnittstudie untersucht, wie junge Ostdeutsche die DDR heute
beurteilen - diese Untersuchung haben wir mit freundlicher
Ge¬nehmigung des Verlags in diesem Heft nachgedruckt. Die Autoren
und die Autorin plädieren dafür, ein Anderssein ohne moralische
Bewertung zuzugestehen und Souveränität im Umgang mit Differenz zu
entwickeln (45).
Dieses Ziel könnte als Überschrift nicht nur über die weiteren
Untersuchungen, sondern über das gesamte Thema gesetzt werden.
W. Wagner beschäftigt sich mit der immer noch prozentual hohen
Einschätzung befragter BürgerInnen in den östlichen Bundesländern,
Bürger zweiter Klasse zu sein, sowie der Meinung, der jeweils
andere Teil Deutschlands habe von der Vereinigung mehr profitiert
als man selbst. Dagegen sprechen differenzierte Befragungen zu
einzelnen Bereichen der Lebensverhältnisse von Angleichung in
vielen Bereichen - allerdings abgesehen von der sozialen Gruppe der
aus verschiedenen Gründen tatsächlichen Verlierer.
C. Albani u. a. schildern Erfahrungen der Binnenmigration in
Deutschland von West nach Ost und umgekehrt, von denen die Mehrheit
aus beruflichen Gründen migrierte. H. J. Stiehler schließlich
berichtet über Gemeinsamkeiten und Unterschiede der
Fernsehgewohnheiten in den westlichen und östlichen
Bundesländern.
Die im Vorwort genannte Erfahrung, dass Deutschland nicht so
schnell zusammenwächst und Ost und West nüchterner werden, zieht
sich angenehm durch fast alle Texte des Themas hindurch. Diese
Nüchternheit ermöglicht - wie das Heft zeigt - eine Debatte auf
einer neuen ruhigeren und genaueren Ebene anzuregen, über
Gemeinsamkeiten, Unterschiede, Trennlinien und emotionale
Beunruhigungen zwischen Ost und West und innerhalb von Ost sowie
innerhalb von West ins Gespräch zu kommen. Zusätzlich zu den
geschilderten Aspekten könnte eine Beschäftigung mit den
Verwicklungen, Fehlern und Einbindungen der alten BRD in den
politischen Gesamtkontext im Blick auf die Geschichte beider Teile
und ihrer Vereinigung ein Beitrag zu dieser Debatte sein.
Mir scheint die Veröffentlichung einer Art Familiengeschichte in
dem Heft ebenfalls ein Ausdruck einer ruhigeren Betrachtungsweise:
Vater DDR und Mutter BRD sollen nun endlich ihrer Tochter
Deutschland ihr eigenes Recht geben und von ihr die Erfüllung
eigener Pflichten fordern (J. Hein, 20).