Rezension zu Psychoanalyse im Dialog mit den Nachbarwissenschaften

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Rezension von Prof. Dr. Arnold Langenmayr

Entstehungshintergrund

Leuzinger-Bohleber weist im Geleitwort auf die Sorge vor einem Zusammenbrechen des common ground in der Psychoanalyse hin: »Ohne solche Integrationsbemühungen formieren sich immer mehr psychoanalytische Subschulen, die –aus meiner Sicht- in wenig produktiver Weise ihre Energien zur gegenseitigen Abgrenzung verschwenden, statt sie zum gemeinsamen Eintreten für die Psychoanalyse in Wissenschaft und Öffentlichkeit zu nutzen« (S.13). Darüber hinaus sei die Psychoanalyse »als Wissenschaft des Unbewussten, des ›Unlogischen‹, Teil unserer Wissensgesellschaft und unserer Kultur geworden« (S.16).

Aufbau

Im ersten Teil beschäftigen sich Autoren mit dem Thema Psychoanalyse und Wissenschaft, wobei die Hauptteile sich mit neurobiologischen Bezügen und mit Aspekten der Psychotherapieforschung beschäftigen.

Der zweite und dritte Teil behandeln Psychoanalyse und Gesellschaft sowie Psychoanalyse und Kultur.

Den vierten und letzten Teil bilden einzelne Aspekte der psychoanalytischen Psychotherapie, wobei u.a. ihre Rolle in der Psychosentherapie und die psychoanalytische Ausbildung besprochen werden. Zusammenfassung und Ausblick von Heinz Böker beenden das Werk.

Psychoanalyse und Wissenschaft

1. In »Neurobiologische Grundlagen des Phänomenalen Selbstbewusstseins« stellt Northoff Beziehungen zwischen dem Selbst und seiner Prozessierung und neuronalen Aktivitäten in den medialen Regionen des Gehirns (kortikale Mittellinienstrukturen) her. Implikationen für das Konzept des Selbst und eine zu entwickelnde Neurowissenschaft der selbstbezogenen Prozessierung sowie für Störungen des Selbst und der Organismus-Umwelt-Beziehung und deren Erleben durch den Patienten (z.B. Schizophrenie, Depression) werden hier deutlich.

2. Im Abschnitt »Die Neurobiologie des Selbst und das psychoanalytische Unbewusste« führt Stark die vorherigen Darstellungen von Northoff weiter aus, stellt Überlegungen über den Zusammenhang zwischen neurobiologischen Untersuchungsmethoden und unbewussten Prozessen an, verweist auf die Unterscheidung zwischen objektivem Kernselbst und subjektivem erzählendem Selbst.

3. »Die Untersuchung neuronaler Effekte Psychodynamischer Psychotherapie mittels Neuroimaging« (Northoff und Böker) verweist auf den Mangel an diesbezüglichen Untersuchungen zu den Auswirkungen psychodynamischer Psychotherapie, gerade in Gegensatz zu anderen therapeutischen Ansätzen. Die Probleme der Objektivierung des therapeutischen Inputs und der Übersetzung der subjektiv-personalen Ebene in die neuronale des Gehirns werden erörtert.

4. »Psychoanalyse und Psychotherapieforschung« (Leuzinger-Bohleber). Unter vielfachem Bezug auf ihre DPV-Katamnesestudie erläutert die Autorin die besondere Problematik der Übertragung medizinischer Doppelblindstudien auf therapeutische Evaluation und die besondere Problematik der psychoanalytischen Therapie im Vergleich zu anderen therapeutischen Ansätzen, die sie z.B. in der Problematik der Erfassung unbewusster Vorgänge mit empirischen Methoden sieht. Das Spannungsfeld zwischen finanziell motivierten Effektivitätsnachweisen und tatsächlichen Möglichkeiten hierzu wird dargestellt.

5. Exemplarisch stellen Böker et al. im Abschnitt »Zur empirischen Evidenz Psychodynamischer Psychotherapie bei depressiv Erkrankten« die genannte Problematik dar. Die Relevanz natürlicher Bedingungen gegenüber randomisierten Vergleichsstudien wird herausgestellt. Dennoch werden eine Unmenge von Effektivitätsuntersuchungen kritisch referiert. Dabei schneiden psychodynamische Therapien ähnlich positiv ab wie andere Verfahren, und im Vergleich mit medikamentösen Behandlungen erwies sich vor allem Kombinationsbehandlung als vorteilhaft. Die Ergebnisse der Metaanalyse von Leichsenring bezüglich der Effektivität insbesondere von Langzeitbehandlungen werden referiert.

6./7. »Psychoanalyse und narrative Forschung« (Boothe) zeigt die Bedeutung dieses Ansatzes für die Psychotherapieforschung, besonders im Bereich psychoanalytischer Verfahren. »Überschätzung des Wortzaubers» (Holzhey-Kunz) erörtert die Beziehung zwischen philosophischen Ansätzen und psychoanalytischen, die schon in Freuds Kritik an philosophischen Betrachtungen als Wortzauber aufscheint. Am Beispiel des Unterschieds zwischen existenzphilosophischem und psychoanalytischem Angstverständnis wird dies verdeutlicht. Nach heutigen Maßstäben wäre Freud nach der Autorin als Empiriker zu werten. Dass die Psychoanalyse gelegentlich selbst Gefahr läuft, als Weltanschauung interpretiert zu werden, wird nicht übersehen.

8. »Umkämpfte Aufmerksamkeit» (Haubl) setzt sich kritisch mit der vorwiegend medizinischen Betrachtung des AD(H)S-Syndroms auseinander und verweist stattdessen auf frühkindlich erworbene Bindungsstile (ängstlich vermeidend/desorganisiert) und auf Aspekte der zu geringen Schonung von Kindern vor Reizüberflutung auch in Zusammenhang mit modernen Medien. Trotz vorhandener empirischer Belege stört den Autor an den bindungstheoretischen Ansätzen, dass diese allzu oft in Richtung eines mütterlichen Versagens interpretiert werden könnten.

Psychoanalyse und Gesellschaft

1. »Narzissmus und Macht« (Wirth): Nach allgemeinen psychoanalytisch fundierten Erörterungen über die Beziehung zwischen Narzissmus, Macht und Paranoia, die unbewussten Wünsche von Herrschenden und Untergebenen stellt Wirth die Anwendungsmöglichkeiten in der realen politischen Analyse dar (amerikanisches Trauma des 11.September und narzisstisch übersteigertes Selbstbild, kollektive Problematik, Äras Bush und Obama).

2. »Perversion und Kultur« (Erdheim) schildert die Entmystifizierung der Sexualität der 80er und 90er Jahre und betrachtet vor allem Homosexualität und Transsexualität unter ethnischen Gesichtspunkten.

3. »Psychoanalyse und Plastische Chirurgie. Der Körper als Verwandlungsobjekt« R. Umbricht und Th. Umbricht untersuchen die Psychodynamik hinter dem Wunsch nach plastischen Operationen. Die Beziehung zum eigenen Körper und ein gesundes Körperbild sind hierbei ausschlaggebende Faktoren. »Wie stark der Drang ist, sich schönheitsmäßig verwandeln zu wollen, an der Perfektion des vermeintlich idealen Objekts teilzuhaben, und wie suchtartig dieser Drang daherkommt, hängt in entscheidendem Maße davon ab, wovor das Subjekt durch den operativen Eingriff gerettet werden möchte, wovon es erlöst werden will« (S.317). Am Beispiel einer gewünschten Brustvergrößerung werden unterschiedliche zugrunde liegende Psychodynamiken wie z.B. der Versuch, eine als schwach erlebte Mutter auszustechen, geschildert.

4. Mit der Arzt-Patient-Beziehung und ökonomischem Reduktionismus beschäftigt sich Haesler in seinem Teil: »Der kranke Mensch im Spannungsfeld von Ökonomie und Ethik. Psychoanalytische Überlegungen zur gegenwärtigen Medizinpraxis und Gesundheitsplanung«.

5./6./7./8. »Psychoanalyse und Theater. Die Suche nach dem guten verlorenen Objekt«(Bondy Borbély und Bondy), »Psychoanalyse und Literatur« (Dettmering), »Verwandlung und Transformation. Assoziationen zu Kafkas Text die Verwandlung« (Bondy Borbély) sowie »Psychoanalyse und Film« (Zachariadis) stellen die nächsten 4 Abschnitte dar.

Psychoanalyse und Psychotherapie

1. »Was leistet die Psychoanalyse für die Selbstkonstitution« (Küchenhoff) erörtert Selbstkonstitution als Einsicht in die eigene Bedingtheit, als Rückgewinnung des Selbst aus der Begegnung mit anderen, als Rückgewinnung des Selbst aus der Veräußerung ins Symptom.

2. »Die zukünftige Rolle der Psychoanalyse in der Psychiatrie« (Hartwich) fordert eine wachsende Bedeutung der Verknüpfung von psychiatrischen, psychoanalytischen und neurowissenschaftlichen Aspekten.

3. »Psychoanalyse und Psychosentherapie« (Dümpelmann) schildert die Besonderheiten der Beziehungen zwischen Analytiker und Patient in diesen Fällen und notwendige Abänderungen konkreter Vorgehensweisen.

4. »Psychoanalytische Ausbildung und institutionelle Psychiatrie«(Himmighoffen und Bertschinger) schildert das Spannungsverhältnis und die Entwicklung der Beziehungen zwischen beiden Disziplinen, wobei in den letzten Jahrzehnten eine zunehmende Distanzierung der Psychiatrie zu registrieren sei.

5. »Psychoanalyse und psychoanalytische Ausbildung. Die Perspektive eines Lehranalytikers« (A. Moser): Die Machtaspekte in der Ausbildung und Fehlentwicklungen derselben, wie sie z.B. Kernberg darlegt, werden geschildert. Die Ungereimtheiten z.B. der Beteiligung des Lehranalytikers an der Beurteilung des Kandidaten werden deutlich: freie, nicht zu wertende Assoziation des Analysanden und anschließende Beurteilung der Berufseignung sind ein Widerspruch in sich. Auch die Verführungen zu Macht und Machtmissbrauch, die dem Ausbildungssystem, den institutionellen Abläufen in Ausbildungsinstituten sowie auch der Analytiker-Patient-Beziehung innewohnen, werden ausführlich geschildert.
Diskussion

Das Buch behandelt ein spannendes Thema, das angesichts der Durchdringung vieler Bereiche unseres Alltagslebens mit psychoanalytischem Gedankengut zusätzlich an Bedeutung gewinnt. Einzelne Abschnitte sind ganz hervorragend bearbeitet. Die Darstellung neurobiologischer Aspekte unbewusster Vorgänge bietet viele Möglichkeiten, die Psychoanalyse aus dem Bereich der reinen Fantasie zu befreien. Auch der Abschnitt über Psychotherapieforschung von Leuzinger-Bohleber verdient auch im Hinblick auf die klar dargelegten Schwierigkeiten, speziell der Psychoanalyse mit der Forderung nach üblichen Effektivitätsstudien, Beachtung. Spannend und durchaus neu fand ich die Sicht des AD(H)S-Syndroms durch Haubl. Ein so oft rein medizinisch missbrauchtes Phänomen nicht nur auf die individuelle Beziehung und erworbene Bindungsmuster, sondern auch auf gesellschaftliche Entwicklungen zurückzuführen, verdient alle Achtung. Schließlich ist auch die kritische Betrachtung der psychoanalytischen Ausbildung ausgesprochen lesenswert. Einige andere Artikel bleiben eher blass.

Irritierend fand ich die Auswahl der Themen bzw. den Wegfall einiger Nachbarwissenschaften, die sich seit eh und je intensiv mit Psychoanalyse beschäftigen. So fehlt die Soziologie, speziell die Familiensoziologie, völlig. Das ist schon insofern verwunderlich, als frühe Analytiker wie Spitz sich hier intensiv betätigt haben. Schließlich hat auch die akademische Psychologie eine Reihe nicht zu vernachlässigender Beiträge zur Psychoanalytischen Theorie geliefert. Sie wird mit Ausnahme der Psychotherapieforschung kaum rezipiert. Zur Theologie hatte selbst Freud schon Bezüge hergestellt. Auch die Behandlung einzelner Themen fand ich eher eklektisch, so z.B. wenn sich die Schilderung ethnologischer Bezüge auf Homosexualität und Transsexualität beschränkt. Schon Erickson hat dieses Thema sehr viel ausführlicher gesehen (Stillzeit, Sauberkeitserziehung). Mir wurden auch die Kriterien für dieses eher eklektische Vorgehen bzw. für genau diese getroffene Auswahl nicht durchsichtig.

Allerdings ist das Buch sicher allein schon wegen einer Reihe exzellenter Beiträge lesenswert. Vielleicht könnte man aber den Wusch äußern, dass der Herausgeber eventuell in einem zweiten Band die Bereiche aufnimmt, die hier ausgespart wurden. Aber natürlich ist es prinzipiell nicht unverständlich, dass angesichts der überbordenden Materialfülle eine Auswahl getroffen werden musste.

Fazit

Ein lesenswertes Buch wegen einiger qualitativ sehr hochwertiger Beiträge trotz einer Schwäche in der Themenselektion.

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