Rezension zu Die Entstehung des Seelischen
à jour! Aktuelles für SPV/ASP Mitglieder 2009 (43)
Rezension von Theodor Itten
Acht Mitautorinnen und acht Mitautoren schreiben in diesem
Sammelband mit. Er erscheint in der Bibliothek der Psychoanalyse,
die sich als Forum der intellektuellen Auseinandersetzung in der
Psychoanalyse versteht und in diesem Verlag als Grundlagen-, Human-
und Kulturwissenschaft verstanden wird. Das Buch kommt in drei
Hauptteilen daher. In Teil I sind Arbeiten mit
theoretisch-konzeptuellen Schwerpunkten zu finden. Der Teil II wird
kinderanalytischen Arbeiten mit klinischen Schwerpunkten gewidmet.
In Teil III sind dann die psychoanalytischen Beiträge mit
unterschiedlichen klinischen Bildern versammelt.
Mich hat im Titel das Wort ›Seelisch‹ angezogen. Von den 14
Beiträgen haben jedoch nur zwei das Seelische im Titel: Im zweiten
Teil Bernt Nissens »Geburt des Seelischen«, und Christa Maria Burr,
die im dritten Teil mit ihrem Aufsatz «Der frühe Biss der
Wirklichkeit: Die Entstehung seelischer Prozesse und
hypochondrischer Körperstörungen« – eine andere Betrachtungsweise
mithilfe franco-ibero-argentinischer Psychoanalyse – in Richtung
Lesewunscherfüllung geht. Eine leise Enttäuschung macht sich in mir
breit.
Nissen, Psychoanalytiker in Berlin, schreibt im Vorwort: »Die
Entstehung des Seelischen ist naturgemäss eines der schwierigsten
und dunkelsten Probleme innerhalb der Psychoanalyse – und zwar aus
methodischen, klinischen und theoretischen Gründen.« Was ist am
Seelischen real, was ist imaginär und was bleibt als symbolisches
Element zurück? Das Wort Seele hat vielerlei Bedeutungen. Zu
beachten gilt immer, aus welchem philosophischen, religiösen,
mythischen, psychologischen Kontext und aus welcher Tradition
dieses benützte Konzept herrührt. Ist das Seelische also das
Gleiche – aber nicht dasselbe – wie das Psychische der Griechen?
Erwin Rhode schreibt in seinem Hauptwerk »Psyche – Seelencult und
Unsterblichkeitsglaube der Griechen« (1894, 2 Bände) auf 770
Seiten, wie unsere Ahnen sich im Seelenkult übten, damit sie an der
Unsterblichkeit teilhaben konnten.
Die Seele ist. Sie zeigt und entfaltet sich während eines einzelnen
Lebens, da sie immer nur je leiblich in einem oder einer sein kann.
Ohne Seele keinen Leib. Psyche ist das Wort für Atem, den viel
besungenen Odem der Dichterinnen und Dichter. Bei Parmenides wurde
die Seele schon nicht mehr als Mischungsverhältnis der Stoffe, die
uns Menschen ausmachen, gesehen, sondern »bald aus dem Sichtbaren
in das Unsichtbare sende, bald umgekehrt.« Das Seelische bezeichnet
somit etwas Präexistentes, das vor seinem Sichtbarsein in einem
Leib schon da war und nach dem Hinscheiden des Körpers weiterhin
sein wird. Der Herausgeber schreibt uns Leserinnen und Lesern in
seiner Vorstellungsrunde, dass kaum Antworten auf die
Entstehungsfrage des Seelischen in diesem Buch zu erwarten sind und
in diesem fundamentalsten Bereich der Psychoanalyse auch nicht
gegeben werden können.
Es wird uns viel kompliziert dargestelltes, klinisches und
theoretisch spekulatives Wissen, wie auch Glauben vermittelt. Fritz
Dürrenmatt schrieb einmal: »Wir glauben zu wissen, und wir wissen
zu glauben. Im Innersten der Seele gibt es Bereiche wo keine Worte
sind«. In der Psychoanalyse aber geht es um das »zu Worte hingen«
des Seelischen. ES zu Worte kommen lassen. Es geht um theoretische
Bemerkungen, welche oft, aber nicht immer, auf klinisch
illustrierten Erfahrungen basieren. Nissen beschreibt die
komplizierten, und ohne Zweifel metapsychologisch wie auch
neuro-somato-psychisch hochspannenden Prozesse der Geburt des
Seelischen mit der Fallgeschichte einer intelligenten Frau, die
unter anderem eine sexuelle Perversion entwickelt hat. Er bringt
seine Gegenübertragungen ehrlich zu Blatt und so können wir den
therapeutischen Verlauf mitverfolgen.
Immer da, wo die verschiedenen Autorinnen und Autoren sich auf ihre
Phänomenologie der Erfahrung als Grundlage des Wissens und des
Theoretisierens verlassen, wird das Lesen dieses Buches ein Genuss.
Nicht täglich praktizierende Psychoanalytikerinnen und
Psychoanalytiker wie auch Psychotherapeutinnen anderer Modalitäten
können meiner Ansicht nach von diesen Behandlungszimmer-Geschichten
profitieren.
Judith Mitrani, Psychoanalytikerin in Los Angeles, ist mit ihrem
Essay »Erstarrt im Schatten der Mutter« ein spannender Beitrag, mit
der sie Fallgeschichte von Julia erzählt, die überall am Körper
hunderte von imaginären Händen der Mutter spürte, welche sie
festhalten und niederdrücken wollten. Manchmal geht es darum, sich
vom Sagbaren des seelischen Raumes (ob imaginär oder konkret)
wieder dem Unsagbaren, dem Unbewussten, zu nähern — wie die
Fallgeschichte von Christa Maria Burr, Fachärztin für
Psychosomatik, aufzeigt. Da gibt es nur eines, nämlich mehr träumen
und, wie Angelika Staehle, Kinderpsychoanalytikerin, ihre
Erkenntnisse betitelt: »Im Schweigen der Worte hülle ich mich
ein.«
Worte wie: Ent-wicklung, Ent-faltung, Ent-deckung, Ent-scheidung
können viel von dem beschreiben, was im inneren seelischen Raum
sich zu zeigen versucht und in der gehaltenen, behaltenen Situation
der therapeutischen und-oder analytischen Beziehung sich als
Wahrheit lebendig aussprechen lässt. Genau so ist es. Finale
Antworten sind keine zu erwarten, da es sie scheinbar nicht
gibt.