Rezension zu Traumatisierungen in (Ost-)Deutschland
Psychische Störungen 30. Erg. Lfg. 3/2010
Rezension von Volker Faust
Man muss es sich einmal vorstellen – aber es tut keiner: Es gibt
ganze Generationen-Schicksale, die aus der politischen und
kriegsbedingten Belastung (von den wirtschaftlichen Konsequenzen
ganz zu schweigen) gar nicht mehr herauskamen. Wir vergessen, dass
es in Mitteleuropa seit sechs Jahrzehnten Frieden gibt; das soll
seit Jahrhunderten (einige sprechen vom 30-jährigen Krieg) einmalig
sein. Das stimmt – was kriegerische Auseinandersetzungen und den
Westen anbelangt. Was die politische Unterdrückung betrifft, waren
die Mitbürger im Osten Deutschlands schlechter dran.
Zurück zur Einleitung. Bis zum I. Weltkrieg seit 1870–71 keine
ernsteren mitteleuropäischen Auseinandersetzungen. Dann ein Krieg,
der alles in den Schatten stellte, was eine wachsende
Vernichtungs-Maschinerie anbelangt. Danach politische Unruhen bis
hin zum Chaos, vor allem aber wirtschaftliche Not. Dann scheinbare
Stabilisierung durch die Nationalsozialisten, bis man merkte, was
man sich hier eingehandelt hatte: politisch,
freiheitlich-demokratisch (in Deutschland ohnehin erst im Entstehen
begriffen), schließlich der II. Weltkrieg, so furchtbar wie nie
zuvor. Danach eine kurze Phase der Befreiung (»wir sind noch einmal
davon gekommen«) und der Wiederaufbau mit allen Hoffnungen, vor
allem aber vom Ausland mit Erstaunen registrierter Energie – und
Nachhaltigkeit. Das war in allen vier Besatzungs-Zonen zu spüren,
aber nur drei durften sich wirklich freiheitlich-demokratisch
entwickeln – und ihrer Freiheit auch erfreuen. Im Osten
Deutschlands ging es weiter wie zuvor: politisch, wirtschaftlich,
letztlich alle Ebenen der menschlichen Entfaltungs-Möglichkeiten
betreffend.
Der Westen hatte im Kalten Krieg seine eigenen Befürchtungen, aber
leben durfte er wie alle, außer im Ostblock. Dort wurden – alleine
in der DDR – zwischen 1945 und 1989 mehr als 300.000 Menschen aus
politischen Gründen inhaftiert. Was es bedeutet, nicht aus
juristisch sauber definierten, sondern meist undurchschaubaren
politischen Gründen inhaftiert und durch die Auslieferung an die
totale Willkür traumatisiert zu werden, das können nur diejenigen
beurteilen und verstehen, die es getroffen hat, vielleicht noch
ihre Angehörigen und nahen Freunde. Jeder Dritte dieser Opfer, so
hört man, leidet in Folge der Traumatisierung an manifesten
psychischen Störungen. Und dies bei einem deutschen
Bevölkerungsteil, der schon zuvor in den Kriegs- und
Nachkriegs-Wirren auf das Heftigste belastet wurde.
Im Freuden-Taumel der Wiedervereinigung ging dies erst einmal
unter. Nachvollziehbar. Und in den Jahren danach stand der
Wiederaufbau und die Wieder-Annäherung im Mittelpunkt. Da war man
gut beraten, sich nicht allzu klagsam wegen der ungerechten
Schicksals-Verteilung zu entäußern. Und doch ließ auch die
Wiedervereinigung mit allen vor allem wirtschaftlichen und
demokratischen Vorteilen solche Narben nicht restlos verheilen. Wer
wollte auch das verlangen. Sollen nun die Betroffenen schweigen?
Froh sein, dass sie es doch noch erleben durften, im Gegensatz zu
Millionen ihrer Mitbürger?
Die Antwort, die einem dazu einfallen könnte, greift auf jeden Fall
zu kurz. Sie vermag das individuelle Leid nicht zu berücksichtigen.
Und darum geht es, zumindest im Einzelfall. Deshalb ist es zu
begrüßen, dass eine – wenn auch kleine, so doch verständnisbereite
und vor allem fachlich versierte – Gruppierung von Ärzten und
Psychologen sich dieses Themas angenommen hat, kurz umschrieben als
»Traumatisierung« in (Ost-)Deutschland, was Geschichte und
Gegenwart anbelangt. In den entsprechenden Tagungen ging es zuerst
um sehr spezifische (insbesondere psychoanalytische) Zugänge, dann
um multikulturelle Übergangs-Phänomene und schließlich um die
Biographien, die Einzelschicksale.
Inzwischen gilt es die wohl am schwersten zu bearbeitenden Folgen
anzugehen, nämlich die »Annäherung an so viel Schmerz, Wut, Scham,
Schuld und Trauer«, wie im Vorwort des Sammelbandes von Z. Seidler
und M. J. Froese geschrieben steht. Die erweiterte Neuauflage der
Ausgabe von 2006 über die äußere und innere Realität in
(Ost-)Deutschland, die Traumatisierungen, erst durch den Krieg und
später durch politische Repressionen, schließlich die Psychoanalyse
in Zeiten von »Wende«, Mauerfall und deutscher Vereinigung mit den
historischen Umbrüchen, auch als Herausforderung für
psychoanalytisches Denken, ist ein wohl einmaliges Dokument, das
wir nicht nur verschiedenen Generationen schuldig sind, sondern
auch der Zukunft unseres wiedervereinigten Volkes. Denn was schon
die Weltkriegs-, insbesondere die Überlebenden-Opfer feststellen
mussten, dürfte in eventuell weniger traumatischer Form auch für
Ost-Deutschland gelten: Man nimmt auf beiden Seiten und im Osten
wahrscheinlich noch ausgeprägter an der Geschichtsschreibung nach
wie vor wenig Anteil. So werden auch die seelischen Traumata
verdrängt, verleugnet, vergessen, stellen einen abgespaltenen Teil
der jüngeren deutschen Geschichte dar. Doch Sprachlosigkeit und
Tabus verhindern nicht nur jede Wundheilung, sondern verursachen
Selbstverletzungen. Und sie spielen bei der Weitergabe von Traumata
an die nächsten Generationen eine zentrale Rolle; genau das müssten
wir eigentlich aus der Vergangenheit gelernt haben (s. o.). Aber es
verhallt reaktionslos im Lauf der aktuellen Geschichte. Doch die
Realität holt uns ein: Unbewusst tradierte Identifikationen mit den
Tätern sowie Scham- und Schuldgefühle erfordern Aufklärung und vor
allem öffentliche Debatte, so der Tenor des neu und erweitert
aufgelegten Sammelbandes, bei dem sich vor allem Psychoanalytiker
mit der politischen »kranken Geschichtsschreibung« zu Wort
melden.
Nicht nur ein wichtiger, sondern eigentlich Pflicht-Beitrag aus
psycho-historischer Sicht. Denn wie heißt es zutreffend: Das Jahr
1989 brachte den DDR-Bürgern neben der Freiheit auch Entfremdung,
Verlust, emotionale Obdachlosigkeit – und damit auch seelische
Verwundungen. 20 Jahre nach dem Mauerfall werden diese nun
zunehmend sichtbar. Doch sie sollten endlich öffentlich bearbeitet
und bewältigbar werden. Das Buch über die Traumatisierungen in
(Ost-)Deutschland ist dazu ein wertvoller Baustein.