Rezension zu Wilfred Bion
Psychiatrische Praxis (2009), 36(4)
Rezension von Peter Theiss-Abendroth
Patienten mit schweren Persönlichkeitsstörungen stellen einen
großen und besonders herausfordernden Teil der psychiatrischen
Klientel dar. Wer sich mit ihnen verstehend-psychodynamisch
auseinandersetzen will, sieht sich schnell der britischen
Objektbeziehungstheorie gegenüber, wie Melanie Klein und Wilfred
Bion sie entwickelt haben und wie sie auch in Deutschland zunehmend
rezipiert wird. Dabei gilt vor allem das Werk des englischen
Psychiaters und Psychoanalytikers Wilfred Bion (1897-1979) als
schwer zugänglich. Um so bemerkenswerter ist es daher, dass
Wolfgang Wiedemann, Psychoanalytiker und Theologe, es sich zur
Aufgabe gesetzt hat, erstmalig in einer Monografie Bions Leben und
Werk deutschen Lesern umfassend zugänglich zu machen.
Wiedemann ist ein guter Kenner der Materie und schreibt aus großer
Nähe zu seinem Gegenstand, was Licht und Schatten auf sein Buch
wirft. So wie Bions Werk im Laufe seines Lebens einen zunehmenden
Abstraktionsprozeß durchlief, angefangen bei klinischen Arbeiten
über eine zunehmend mathematisierte Wissenschaftstheorie bis hin zu
mystischen Überlegungen, so bildet auch die Struktur von Wiedemanns
Schrift ein Bemühen um wachsende Abstraktion ab. Sie gliedert sich
in drei große Kapitel über Bions Leben, Wirken und Denken.
Unglücklicherweise steht mit der Biografie gleich der schwächste
Teil am Anfang, da sie über eine Kompilation von Bions
autobiografischen Schriften kaum hinausgeht und kein Bemühen um
Quellenarbeit oder auch nur einen unabhängigen Standpunkt aufzeigt.
Bions pointiertem, selbstkritischem Schreiben ist zu verdanken,
dass dennoch ein plastisches Bild einer stets strebenden, aber
innerlich zerrissenen, von Migration und den beiden Weltkriegen
geprägten Persönlichkeit entsteht. Er war im ersten der beiden
Kriege ein als Kriegsheld ausgezeichneter Panzerkommandant und
leitete dann in den 1940er Jahren, gemeinsam mit seinem ersten
Lehranalytiker John Rickman, vorübergehend die psychiatrische
Abteilung des Northfield Military Hospital. Die beiden führten ein
antiautoritäres gruppentherapeutisches Experiment durch, das rasch
von den Behörden zurückgerufen wurde. In den Jahren nach dem Krieg
und mit einer zweiten Lehranalyse bei Melanie Klein ging sein
Interesse vom gruppen- zum einzeltherapeutischen Arbeiten über,
wobei die Analogie von Krieg und Psychose eine zentrale Achse
seines Denken bildete. Dementsprechend definierte er die Aufgabe
des Therapeuten wie jene eines Panzerkommandanten: Denken zu
können, auch unter Beschuss, nicht unbedingt gut, aber überhaupt.
Dem von Melanie Klein entwickelten Begriff der projektiven
Identifikation nahm er seine pathologische Bedeutung, so dass er
ihn als basales Muster der frühen Mutter-Kind-Interaktion verstehen
konnte. Wenn die Mutter auf diese Weise die rohen Affekte des
Säuglings aufnehmen und ihm metabolisiert zurückgeben kann, sind
Voraussetzungen psychischer Entwicklung gegeben, die bei
persönlichkeitsgestörten Patienten häufig fehlen. Dieses als
»Modell Container/Contained« bezeichnete und mit C/Cd oder auch ♀♂
abgekürzte Konzept verdichtet Bions komplexe Gedanken und besitzt
in seiner Transferierbarkeit hohen heuristischen Wert für den
psychiatrischen Alltag.
Wolfgang Wiedemann gelingt es, Bions sehr eigene Versuche, dem
Vorsprachlichen Worte abzuringen, anschaulich darzustellen, ohne je
simplifizierend zu werden. Wie vielen originären Denker stieß es
auch Bion zu, dass seine Epigonen aus seinen Gedanken eine neue
Orthodoxie formten. Dazu gehört Wiedemann auf keinen Fall. Auch
wenn sein Interesse vor allem spekulativer Theologie gilt und sein
Band einiges vermissen läßt wie etwa eine Darstellung der
klinischen Praxeologie, der Rezeption Bions, ein Register oder auch
einfach nur eine sanfte Korrektur der mitunter irreführenden
Interpunktion, so hat er doch einen wichtigen Beitrag zur Aufnahme
von Bions Denken im deutschen Sprachraum geleistet.