Rezension zu Psychotherapie der Borderline-Persönlichkeitsstörung
Zeitschrift für Transaktionsanalyse 27(2) 2010
Rezension von Ulrike Müller
Brauchen wir wirklich noch ein Buch über die Borderline
Persönlichkeitsstörung? Im vorliegenden Fall heißt die Antwort
uneingeschränkt »Ja«.
Obwohl ein in wissenschaftliche Vergleichsstudien eingebetteter und
primär für den stationären Gebrauch gedachter Behandlungsansatz,
ist das Buch für jeden, der sich mit Persönlichkeitsstörungen
befasst, eine Bereicherung, sowohl was theoretische Zugänge zum
Störungsbild als auch was den sehr differenzierten
Behandlungsansatz angeht. Vorausgeschickt sei, dass sich der Ansatz
modifiziert durchaus auch für die Einzelpraxis eignet.
Was ist nun das Besondere an der vorliegenden Arbeit?
Fonagy und Bateman gehen von der empirisch gut belegten These aus,
dass PatientInnen mit einer BPS keine oder eine kaum entwickelte
Mentalisierungsfähigkeit besitzen (Kap. 3). Sie verfügen also gar
nicht oder nur rudimentär über die Fähigkeit, die es Menschen
erlaubt, ihr eigenes und fremdes Tun mit Bedeutung zu belegen, mit
Absichten (Wünschen, Bedürfnissen) in Zusammenhang zu bringen und -
von da ausgehend - sich und andere als fühlende Wesen zu begreifen
und sich in die Gefühlswelt von anderen hineinversetzen zu können.
Die Mentalisierungsfähigkeit »wirkt als Puffer zwischen Fühlen und
Handeln und hilft dem Individuum, andere Personen (und sich selbst)
besser zu verstehen« (S. 435). Es leuchtet ein, dass ausgehend von
dieser Prämisse der Erwerb der Mentalisierungsfähigkeit das
Therapieziel ist. Im ersten Kapitel werden mögliche Ursachen für
die BPS sehr umfassend abgehandelt, einschließlich der
Bindungstheorie und neues¬ter biologischer und neurophsyiologischer
Forschungsergebnisse, die bisherige Annahmen auch als überholt
erscheinen lassen.
Die Autoren entwickeln ihren Behandlungsansatz mit der Absicht,
eine dauerhafte Behandlung der Störung selbst zu erreichen. Sie
beschränken sich folglich nicht auf die Symptombeschränkung, wie
das leider nur zu häufig geschieht. Insgesamt also ein
psychodynamischer Ansatz, der immer wieder mit
verhaltenstherapeutischen Ansätzen verglichen wird, auch mit dem
vielgerühmten DBT Ansatz .
Was macht das Buch im Einzelnen lesenswert?
1. Für uns TransaktionsanalytikerInnen: der hohe
Wiedererkennungswert an transaktionsanalytischer Theorie,
angefangen von Skriptglaubenssätzen bis hin zur
»Rekonstruktionsarbeit, die z.B. das Kind in einer Patientin
zugänglich macht« (S. 174). Die Autoren messen dieser Arbeit u.a.
deshalb eine so wichtige Bedeutung zu, weil mit ihr »eine kohärente
Selbstnarration erzeugt« wird (ebenda). Auch das ist ein Thema, das
zunehmend in der transaktionsanalytischen Methodik seinen
Stellenwert bekommt (vgl. J. Allen im vorliegenden Heft). Die Art
zu fragen erinnert an unser »marsianisches« Fragen; was hier
»Repräsentationssysteme« genannt wird, sind bei uns Skriptsysteme
.
2. Eine konsequent modifizierte Arbeit in und mit der Übertragung,
bei der der Therapeut nicht zur Projektionsfläche früher
Elternpersonen wird, sondern als reale Person im Hier und Jetzt als
Resonanzboden für die Patient Therapeuten Beziehung dient: So kann
immer wieder thematisiert und reflektiert werden, was die
Beteiligten wollen, fühlen, brauchen und was die unterstellten
Vermutungen sind: also Mikroschritte hin zur Mentalisierung des
Geschehens .
3. Dies eingebettet in eine verlässliche Beziehung, in der die
Häufigkeit der Sitzungen verhandelbar ist und zu der auch Kontakte
zwischen den Therapiestunden gehören, genau abgestuft und
vertraglich festgelegt. Ebenso wird toleriert, dass Patienten nicht
zur Sitzung erscheinen, weil, so die Begründung, sie sich so vor
der Wucht der Themen schützen. Auffällig dabei ist, wie einfühlsam
und respektvoll das Therapeutenteam mit seinen Patienten umgeht.
Diese Haltung zieht sich durch das ganze Buch und unterfüttert die
zum Teil sehr wissenschaftlichen Abhandlungen auf wohltuende Weise.
Die Autoren betonen immer wieder die Bedeutung des
beziehungsorientierten Ansatzes. Auch dies Schritte hin zu einer
sich allmählich erweiternden Mentalisierung.
4. Selbstverletzendes Verhalten wird nicht per se als
»Kündigungsgrund« angesehen, sondern im Zusammenhang mit der akuten
Verfassung der Patientin gesehen und analysiert.
5. Ein erweitertes Verständnis des Begriffes »Borderline«: Er wird
nicht rigide von der Narzisstischen Störung abgegrenzt. Vielmehr
können narzisstische, antisoziale (u.Ä.) Züge eine spezifische
Färbung der Persönlichkeit bewirken, was die therapeutische Arbeit
zusätzlich erschweren kann, die aber jedenfalls erkannt und
mitbedacht werden muss.
Das Herzstück des Buches bilden die Kapitel sieben und acht, in
denen minutiös die Behandlungsstrategien, gefolgt von den
Behandlungstechniken, erläutert werden. Auch hier fallen immer
wieder Ähnlichkeiten mit der Transaktionsanalyse auf.
Die Qualitäten und Fähigkeiten, die der Therapeut mitbringen muss,
um mentalisierend auf den Prozess einwirken zu können, bekommen
ebenso einen breiten Platz eingeräumt wie die »Lernaufgaben«, die
die Patienten im Verlauf der Therapie bewältigen können müssen, um
am Ende mentalisierungsfähig zu sein. Die einzelnen Schritte oder
Stufen werden genau beschrieben und die damit einhergehenden
Probleme benannt. Zentral ist hierbei die Aufgabe, »teleologische
Modelle in intentionale zu transformieren, psychische Äquivalenz
durch symbolische Repräsentierung zu ersetzen und Affekte mit
Repräsentationen zu verknüpfen« (S. 309). Unabdingbare
Voraussetzung seitens des Therapeuten ist die Aufrechterhaltung von
psychischer Nähe (S. 315) und die Bereitschaft, sich immer wieder
fragend in die Patientin hineinzuversetzen; mit anderen Worten die
Bereitschaft, ihr inneres System zu verstehen und von dort aus
einen Behandlungsmodus zu entwickeln. Bemerkenswert ist, dass die
Autoren großen Wert auf die geteilte Verantwortung für das Gelingen
der Therapie legen.
Das Buch schließt mit einem reichhaltigen Anhang, sowohl mit
Material zum Selbststudium des Therapeuten als auch mit Fragebögen
zu einschlägigen Problemfeldern der Borderline-Patienten. Ein
umfangreiches Literaturverzeichnis regt zu weiterer Lektüre an; ein
Register kommt dem Leser entgegen, der das Buch als
Arbeitsgrundlage benutzen möchte.