Rezension zu School-Shooting (PDF-E-Book)
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Rezension von Dr. Jos Schnurer
Nicht Fingerzeig – Erklärungsanstrengung tut Not
»Why Kids kill«, diese Frage steht immer am Anfang einer eher
ratlosen und erschreckten Öffentlichkeit, wenn jugendliche Täter in
Schulen Amok laufen (vgl. die Rezension zu Peter Langman, Amok im
Kopf. Warum Schüler töten, Weinheim/Basel 2009). Die
Zuschreibungen, wie sie die Menschen eher verunsichern und
emotionalisieren, reichen dabei von Deutungen von gestörten
Einzelfällen bis hin zu reflexartigen Forderungen nach mehr
Sicherheit in den Schulen. Weder die eine, noch die andere
Sichtweise hilft weiter! Da ist es gut und hilfreich, wenn sich
einer daran macht, eine Analyse von School-Shootern vorzunehmen,
die auf psychologischen, soziologischen und
gesellschaftspolitischen Grundlagen beruht; denn, so der
stellvertretende Geschäftsführende Direktor, Gruppenlehranalytiker,
Gruppenanalytischer Supervisor, Organisationsberater (DAGG) und
Leiter des Forschungsschwerpunkts Psychoanalyse und Gesellschaft am
Frankfurter Sigmund-Freud-Institut, Rolf Haubl, in seinem Vorwort
zu der Analyse »School-Shooting«: »Eine solche Analyse führt in die
Mitte der Gesellschaft, die alles andere als friedlich und überdies
nicht nur individuell, sondern vor allem strukturell gewaltförmig
ist«.
Autor und Inhalt
Der Soziologe Benjamin Faust ist in einer Frankfurter Schule tätig
und als wissenschaftliche Hilfskraft engagiert bei einem
Forschungsprojekt, das sich mit der Medienberichterstattung über
den Amoklauf von Winnenden beschäftigt. Seine These: »Amokläufe an
Schulen … (stellen) im höchsten Maße sinnvolle und
identitätsstiftende Handlungsakte (dar)… und (sind) als solche tief
verstrickt in das gesellschaftliche Umfeld…, in dem sie sich
ereignen«. Der Problematik nähert sich der Autor zum einen aus
soziologischer Perspektive; dabei orientiert er sich an den Fragen:
Weshalb laufen Jugendliche gerade an Schulen Amok? Wodurch ist der
Hass gegen diese Institution entstanden? Welche Konflikte hat es
prädeliktisch zwischen den späteren Tätern und ihren Lehrern bzw.
ihren Mitschülern gegeben? Warum finden Amokläufe vermehrt in
Gegenden statt, wo man derartige Gewaltausbrüche am wenigsten
erwarten würde? Schließlich auch: Woher stammt das immense mediale
Interesse an Amokläufen und was kann eine derart überbordende
Berichterstattung bewirken? Zum anderen analysiert er aus
psychologischer Sicht Tagebücher, Abschiedsbriefe und –videos.
Wichtig ist dabei auch, dass man analytisch und sachlich richtig
mit Begriffen umgeht: School-Shooting, Amoklauf. Dabei bezieht sich
der Autor auf mehrere Studien zur Thematik, wie etwa auf die von
Lothar Adler (2000) und Monika Lübbers (2002) (wobei er die von
Peter Langman, siehe oben, nicht erwähnt). Den Schwerpunkt der
Arbeit legt Faust auf die phänomenologische Betrachtung. Obwohl
sich in den von ihm untersuchten Schul-Amokläufen kein
einheitliches Profil der Täter zeigt, so lassen sich doch
verallgemeinerbare Merkmale in Bezug auf Täter, Tatverhalten und
Tatort herausfiltern, wie etwa, dass der Amoklauf jeweils in einer
Schule stattfindet, mit der die Täter in langjähriger und direkter
Verbindung stehen; dass sich der Tatort überwiegend in einer
ländlichen Gegend befindet; dass die Häufigkeit von
School-Shootings zugenommen habe; dass die Täter meist männlich
sind, die sich in einer sozialen Randlage befinden; dass sie
depressiv und suizidal gefährdet sind und oft vor der Tat eine
Erfahrung von Verlust oder Niederlage erlebt haben; dass sie Zugang
zu Schusswaffen haben und dass sie mit Waffen umgehen können; dass
ein starkes Interesse an gewalthaltigen Medienprodukten und ein
intensiver Medienkonsum vorherrscht; dass die Täter ihre Tat über
einen längeren Zeitraum planen und entsprechende Andeutungen über
die Absicht äußern; dass sie, falls sie sich nicht selbst töten,
ihre Tat danach keinesfalls abstreiten oder ihre Identität
verbergen wollen.
Die soziologische Analyse von School-Shootings hat sich mit der
Doppelfunktion der Institution Schule auseinander zu setzen: Zum
einen hat sie gesellschaftlich relevantes Wissen zu vermitteln, zum
anderen aber wirkt sie auch selektiv und produziert dadurch auch
»soziale Ungleichheit«. Diejenigen, die den Leistungsanforderungen
nicht in den gesetzten und tradierten Maßen gerecht werden, fallen
– durch Notengebung und nicht selten überzogene
Leistungserwartungen seitens der »Abnehmer« – durch die Maschen des
weiten Netzes. Die Folge: Die Betroffenen geraten in soziale und
exklusive Randpositionen. Nicht jeder derjenigen wird natürlich zum
School-Shooter. Doch die Spannweite zwischen Anpassung und
Exklusion ist weit, und ein jugendlicher Amokläufer tendiert,
mangels Aufmerksamkeit seitens des Elternhauses, der Lehrerinnen
und Lehrer, der Schülerinnen und Schüler und in der Clique:
»School-Shooter befinden sich zum Tatzeitpunkt in einer Situation
der sozialen Randständigkeit, die sich in mangelnder Anerkennung
durch das soziale Umfeld ausdrückt und von ihnen als ungerecht
erlebt wird«.
Eine aussagekräftige Analyse freilich wird zur Thematik kaum
erreicht werden können, gelingt es nicht, das soziale Umfeld des
School-Shooters zu betrachten. Hier, und das dürfte die stärkste
Aussage der Faustschen Untersuchung sein, formuliert der Autor die
schmerzhafte Erkenntnis, dass »die radikal Anderen, die Monster, zu
denen sie im Nachhinein gemacht werden ( ) … Teil der Gesellschaft
(sind), in der wir alle leben«. Dieser notwendige Blick auf uns
selbst, die gesellschaftliche Mentalität und Politik, macht
deutlich, dass Amokläufern zugute kommt, was in unseren
(westlichen) Gesellschaften gewissermaßen »selbstverständlich« ist
– der Umgang mit Waffen, Männlichkeitskult und –macht,
Gewaltverherrlichung: »Zwar gilt gesellschaftlich und kulturell die
Ausübung von Gewalt nicht direkt als explizit männliche
Eigenschaft, allerdings stellt Gewalt eine Möglichkeit dar, Macht
auszuüben«.
Weil die psychische Verfassung eines Menschen nicht einfach zu
verstehen ist, und die Zuschreibungen von »psychisch krank« niemals
leicht diagnostiziert werden sollten, sollte man sich hüten,
vorschnell Urteile abzugeben. Als eine der wesentlichsten,
psychologischen Ursachenbenennung wird dabei, wie Faust in den
dargestellten Selbstauskünften der späteren Täter aufzeigt,
narzisstisches Verhalten identifiziert.
Fazit
Benjamin Faust will mit seiner Arbeit nicht in erster Linie
»Amok-Prävention« betreiben; vielmehr leistet er damit einen
wichtigen Beitrag zur Versachlichung des ohne Zweifel gravierenden
Problems. Dabei zeigt er auf, dass die bisher im gesellschaftlichen
Diskurs um Schul-Amoktaten favorisierten Tendenzen – nämlich den
Amoklauf entweder als ein Menetekel unserer »kriminellen Zukunft«
an die Wand zu malen und damit Tendenzen hin zu einem
»Überwachungsstaat« das Wort zu reden, oder die Entwicklung des
School-Shooting zu verharmlosen und in die Ecke der
gesellschaftlichen Extreme zu stellen – wenig hilfreich sind, um
das ohne Zweifel abzulehnende, abweichende Verhalten aus der Welt
zu schaffen. Was bleibt, ist, ob als Erklärungsversuch und/oder als
Prävention: Hinsehen – und an einem Perspektivwechsel
mitzuarbeiten, den die Weltkommission »Kultur und Entwicklung«
(1995) so fordert: »Die Menschheit steht vor der Herausforderung
umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich
umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden«.
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