Rezension zu Traumatisierungen in (Ost-)Deutschland

Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik 46, 2010

Rezension von Peter Diederichs

Nachdem die Psychoanalyse die seelischen Folgen des Holocaust Traumas für die Überlebenden und deren Kinder intensiv erforscht und zu therapieren versucht hat, haben deutsche Analytiker in den letzten Jahren begonnen, sich auch mit den Traumatisierungen von Deutschen durch den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg auseinander zu setzen (s. u. a. Ermann oder Radebold). Ein besonderer Verdienst der Herausgeber ist, dass sie sich als ostdeutsche Psychoanalytiker an Traumatisierungen während der SED Herrschaft heranwagen, obwohl dieses Thema eigene schmerzliche Affekte wie Wut, Scham oder Schuld und immer auch Abwehr auf den Plan rufen. Sie plädieren 20 Jahre nach der Wende dafür, diese epochalen historischen Ereignisse und deren psychische Verarbeitung differenzierter und komplexer zu betrachten.

Das Buch ist aus Beiträgen eines Symposiums (2005) der Arbeitsgemeinschaft für Psychoanalyse Berlin hervorgegangen und in einer Neuauflage 2009 um einige Arbeiten (Adam Lauterbach, Horzetzky und Matthe) erweitert und bereichert worden. Die Herausgeber betonen, dass zu den Kriegs und Nachkriegstraumatisierungen auch spezielle DDR Erfahrungen (wie Bespitzelung, Reisebeschränkungen, Pervertierung des Rechtssystems etc.) »als mögliche traumatogene Faktoren« hinzukommen. Ein Spezialfall sind Konflikte und Kränkungen durch die sogenannte Wende. »Diese spezifisch ostdeutschen seelischen Verletzungen passen nicht ins neue Deutschland und werden oft als Larmoyanz und Verbitterung denunziert. Deswegen geraten sie unter eine kollektive Minderschätzung und genau deshalb müssen sie auf die Tagesordnung kritischer Diskussionen und umfassenderer Würdigung« (S. 38).

Ohne Zweifel haben 40 Jahre Leben im DDR Sozialismus die Ostdeutschen nachhaltig geprägt. In Zeiten, in denen das kapitalistische System in neue Krisen gerät, zeigt sich, so die Autoren, »dass mit der linken Utopie vorschnell auch wichtige gesellschaftskritische Denkfiguren abgetan« wurden. »Angesichts dieser Situation sehen wir es als dringend geboten, seelische Prägungen, Besonderheiten und Verletzungen Ostdeutscher aus einer Perspektive einzubringen, die wir kennen, aus der klinischen Praxis und der eigenen gelebten Geschichte« (S. 24).

Als Gastautor eröffnet Mario Erdheim den Sammelband mit seinen elementaren Erkenntnissen über »die Produktion von Unbewusstheit in der Erinnerungskultur« Er widmet sich insbesondere der Frage, wie sich Kulturen des Erinnerns und Vergessens in Abhängigkeit von den Machtverhältnissen entwickeln. Danach folgen zwei wichtige Beiträge der Herausgeber. Christoph Seidler befasst sich in seiner Arbeit über »Trauma, Schweigen und Erinnern« mit vier Themenkomplexen:

1. Sprachlosigkeit über Kriegsfolgen bei den Deutschen,
2. Kinder der Kriegskinder als Patienten,
3. Einflüsse dieser Erfahrungen auf uns Psychoanalytiker und auf die Psychoanalyse,
4. Kränkungen bei der Geschichtsschreibung Ost.

Die große Sprach und Gefühllosigkeit im Kontext des Zweiten Weltkriegs werden als Symptome eines abgespaltenen oder unvalidierten Unterbewusstseins gedeutet. Wenn Schrecken und Entsetzen zum Alltag gehören, wird Pathologie zur Normalität und das wiederum erschwert die Auseinandersetzung mit sich selbst und den inneren Objekten. Letztlich hätten die Ostdeutschen anders als die Westdeutschen - eine Doppeltraumatisierung erfahren. Seidler stellt mit Blick auf das Thema Kränkungen fest, dass die ostdeutsche Geschichte überhaupt noch nicht geschrieben sei. Durch die Fokussierung auf die umfassende Stasi Bespitzelung sei sie bisher zu einseitig interpretiert worden: »Im Steinbruch Ost Deutschlands bedient sich jeder, der nach Vorurteilen sucht« (S. 96).

Michael Froese leitet seinen Beitrag »Überlegungen zur psychohistorischen Situation Ostdeutschlands« mit einem Zitat von E. Furet ein: »Die kommunistische Idee hat sich in den Köpfen länger erhalten als in der Realität und im Westen länger als im Osten. So ist ihr imaginärer Werdegang geheimnisvoller als ihre reale Geschichte« (S. 102). Er beginnt seinen Beitrag mit den Traumatisierungen der Kriegskinder, wobei er sich auf die Untersuchungen von Leuzinger Bohleber und Radebold beziehen kann. Bei den Kriegskindern, so Froese, lasse sich unter anderem eine Spaltung des Vaterbildes in den idealisierten Vater der Frühzeit und den kompromittierten Vater der späteren Jahre beobachten (S. 107). Zwölf Jahre Naziherrschaft und 40 Jahre DDR Regime addierten sich, führt der Autor aus und wünscht sich, dass dies bei der Untersuchung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Menschen in Ost und West berücksichtigt werde. Zu den spezifischen DDR Traumatisierungen gehören zum einen konkrete politisch historische Ereignisse wie der 17. Juni, der Aufstand in Ungarn 1956, der Mauerbau 1961, der militärische Einmarsch in die CSSR 1968, die polnische Gewerkschaftsbewegung 1980, die Wende 1989 und die Wiedervereinigung 1990, zum anderen die umfassende Bespitzelung durch den Staatssicherheitsdienst (letztlich eine Fortsetzung der Tradition der Gestapo und eine Anlehnung an die Methoden des KGB), und schließlich eine zweifache Umbruchsituation, nämlich zum Kriegsende und nach der Auflösung der DDR plus Erfahrungen mit der Wiedervereinigung. Durch letztere verloren nicht wenige Ostdeutsche ihre Existenzbedingungen und der Autor zitiert »Die Metapher vom Ostdeutschen als Minenhund der Modernisierung in Deutschland« (S. 120), um diese Erfahrungen zu charakterisieren. Besonders klar erkennbar sind die Traumatisierungen in dem Zusammenhang von politischer Verfolgung und Haft, denen sich auch die Beiträge von Bomberg und Wohlrab in diesem Band widmen.

Annette Simon setzt sich in ihrem Beitrag über »Psychoanalytische Reflexionen zur Funktion der Stasiunterlagen Behörde« mit ihrer eigenen Stasi Akte auseinander. Wie viele Andere hat sie und haben ihre Angehörigen erst einmal über die banalen, manchmal absurden, Informationen der »IMs« gelacht. Sie fragt aber Parin folgend auch, wel¬che enormen Anpassungsleistungen nötig waren, um die latenten Gefühle von Angst, Ohnmacht, Scham und Aggression gegenüber der politischen Gewalt zu ertragen. »Das Lachen ist nach dem Ritt über den Bodensee allemal legitim, aber es erspart uns auch die tiefere Auseinandersetzung mit den Anpassungsmechanismen, denen wir unterlagen« (S.134). Im Folgenden stellt sie einige bemerkenswerte Überlegungen aus psychoanalytischer Sicht zur Funktion der Gauck bzw. Birtler Behörde an.

Karl Heinz Bomberg und Lutz Wohlrab befassen sich mit der »Traumatisierung durch politische Haft in der DDR« als Betroffene. Zwischen 1945 und 1989 waren über 300.000 Menschen aus politischen Gründen inhaftiert, ein Drittel leidet nachweisbar unter Haftfolgeschäden wie Depressionen, Angststörungen, psychosomatische Erkrankungen und posttraumatische Belastungsstörungen. Die Autoren betonen, dass Anerkennung der Opfer sowohl praktisch wie auch moralisch noch unzureichend seien.

Inge Brüll berichtet in ihrem Beitrag »KZ - Trauma ohne Ende. Ein Spiegel ist zerbrochen« über die Biografie eines inoffiziellen Mitarbeiters (IM), also eines Täters. Mit Rückgriff auf den in der DDR zum Klassiker gewordenen Roman »Nackt unter Wölfen« zeigt sie, wie die transgenerationale Weitergabe eines KZ Traumas der Mutter an den Sohn »funktioniert«.

Im letzten Teil des Bandes geht es um »die Psychoanalyse in Zeiten von Wende, Mauerfall und Deutscher Vereinigung« Astrid Wahlstab beschreibt in ihrem Beitrag »Zwischen Traum und Trauma - Gedanken zu ostdeutschen Biografien« die Verflechtungen gesellschaftlicher und personenbezogener Traumafolgen, die bei einer Analyse spezifisch ostdeutscher Probleme berücksichtigt werden müssen. So plädiert sie für die Akzeptanz einer »Posttraumatischen Verbitterungsstörung« da jeder 3. Ostdeutsche sich als Verlierer der Wende gefühlt haben soll.

Erwähnt werden muss - auch wenn nicht alle Beiträge ausführlich gewürdigt werden können - Christa Ecke, die aus ihrer klinischen Praxis von Patienten berichtet, die sexuelle Gewalt in ihren Beziehungen erlitten haben. Neben der politischen Gewalt gab es in Ostdeutschland auch sexuelle Gewalt in den Familien. Sie manifestiert sich also sowohl in kapitalistischen als auch sozialistischen Gesellschaften und ist nach Ecke »ein besonderer Aspekt patriarchalischen Herrschaftsverhaltens, das durch alle Bevölkerungsschichten zu gehen scheint.« Laut statistischem Jahrbuch der DDR (1989), gab es in den Jahren 1984-1988 jährlich etwa 1.100 vor Gericht behandelte Straftaten wegen sexuellen Missbrauchs an Kindern und Jugendlichen. Im selben Zeitraum wurden in der BRD jährlich 1.400 Straftaten verhandelt (bei 3 facher Bevölkerungszahl). Wolfgang Kruska (»Auf den zweiten Blick oder wenn der Wind sich dreht«) setzt sich mit den Traumatisierungen des Therapeuten bzw. Analytikers im sich verändernden Ostdeutschland nach der Wende auseinander. Den Schluss des Bandes bilden die Beiträge von Autoren, die im Tagungsband noch nicht enthalten waren. Christina Matthe stellt in ihrem Beitrag »Ich hätte das Veränderungsthema erst gar nicht aufkommen lassen ... Gedanken zu Triangulierungsprozessen und Innenräumen in einer psychotherapeutischen Behandlung und in der DDR« den Fall eines Patienten aus dem Oderbruch in den Mittelpunkt, der nach der Öffnung der Mauer psychosomatisch erkrankt ist. Frank Horzetzky (»Die Wende in Ostdeutschland für die Generation der damals Jugendlichen«), betrachtet aufgrund seiner klinischen Erfahrungen aus Psychoanalysen mit Patienten, die Ende der 1980er Jahre in der Pubertät waren, die Probleme bei deren Ablösung von den Primärobjekten. Sie haben erlebt, wie ihre Eltern depotenziert und depressiv wurden. Er beschreibt auf der Basis dieses Materials, wie diese Erfahrung die normale Ablösung der Jugendlichen von den Eltern erschwerte.

Dorothee Adam Lauterbach, die einzige westdeutsche Autorin bzw. in der Bundesrepublik ausgebildete Psychoanalytikern, setzt sich mit der westdeutschen Perspektive auf die ostdeutsche Geschichte auseinander. Sie schildert den Fall einer Frau, die bis zur ihrer Spätadoleszenz in der DDR aufwuchs und durch eine kommunistische Erziehung geprägt wurde und zeigt, wie sich die Patientin gegenidentifikatorischer Mechanismen bedient, um die Ablösung von den inneren Eltern zu bewerkstelligen, aber damit scheitert - was sie schließlich in die analytische Behandlung führt.

Dieses Buch ist ein Meilenstein für die Arbeit von Psychoanalytikern, Psychotherapeuten, aber auch im psychosozialen Bereich arbeitenden Helfer in Ost und West, welche die seelische Verarbeitung des DDR Regimes vor und nach der Wende verstehen wollen. Die Herausgeber wundern sich zu Recht, dass relativ wenige Patienten mit ihren Traumatisierungen in der ehemaligen DDR therapeutische Hilfe in Anspruch genommen haben. Vielleicht hat es damit zu tun, dass Ostpatienten lieber Westpsychotherapeuten als »eigene« potentiell mit dem System kontaminierte Therapeuten aufsuchen - meine eigene Erfahrung aus den 90er Jahren spricht für diese Annahme. Es könnte aber auch eine Folge der speziellen DDR Sozialisation sein, war doch im Sozialismus die Suche nach individueller Hilfe eher verpönt Psychoanalyse galt und gilt vielleicht noch heute als »bürgerliche Wissenschaft«.

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