Rezension zu Die »Generation der Kriegskinder«
Mitteilungen des Archivs der Arbeiterjugendbewegung (Mitteilungen AJB) 2010/I
Rezension von Armin Nolzen
Im Verlauf des Zweiten Weltkrieges, den das NS-Regime mit dem
Angriff auf Polen am 1. September 1939 entfesselt hatte, verloren
etwa 4,7 Millionen deutsche Soldaten ihr Leben. Sie hinterließen
mehr als eine Million Witwen, fast 2,5 Millionen Halbwaisen und
100.000 Vollwaisen. Schätzungsweise 95 Prozent dieser Kinder waren
zwischen 1936 und 1945 geboren worden. Viele haben in den letzten
Jahren das Pensionsalter erreicht. Seit der Jahrtausendwende ist
eine verstärkte mediale Präsenz dieser Gruppe zu beobachten, die
sich selbst als »Kriegskinder« bezeichnet. In unzähligen
literarischen Verarbeitungen, Fernsehdokumentationen, Memoiren,
Familiengeschichten und Feuilletonartikeln haben sie seither ihre
Erfahrungen in die Öffentlichkeit getragen. Vertreter dieser
»Kriegskinder« etikettieren sich abwechselnd als »Söhne ohne
Väter«, »vaterlose Töchter« oder als »stille Generation«, die
gelitten und darüber lange Zeit geschwiegen habe. Ihre
Selbstbeschreibungen zeichnen sich durch drei gemeinsame
Interpretationsmuster aus: Erstens stilisieren die meisten
»Kriegskinder« ihre subjektiv gefärbte Lebensgeschichte zur
Erfahrung einer gesamten Generation, zweitens gehen sie von
Langzeitfolgen ihrer Leiden aus, die sie zumeist mit dem Begriff
»Traumatisierung« zu fassen versuchen, und drittens werfen sie der
deutschen Nachkriegsgesellschaft vor, diese Erfahrungen lange Zeit
verdrängt zu haben. Ihr jahrzehntelanges Schweigen erscheint in
dieser Perspektive als logische Konsequenz eines übermächtigen
gesellschaftlichen Nachkriegsdiskurses, der die Thematisierung
deutschen Leides generell unterbunden habe.
Parallel zu den öffentlichkeitswirksamen Selbstdarstellungen der
»Kriegskinder«, die sich darin auch gerne als »Tabubrecher«
inszenieren, hat die historiografische Beschäftigung mit ihren
Erfahrungen eingesetzt, die sich in vielerlei Hinsicht als
wichtiges Korrektiv erweist. Im Rahmen des Sonderforschungsbereichs
(SFB) 434 an der Justus-Liebig Universität Gießen, der unter dem
Titel »Erinnerungskulturen« firmierte, hat Lu Seegers ein
Teilprojekt erarbeitet, das mittels einer sozial- und
kulturgeschichtlichen Herangehensweise Le¬benssituationen und
Lebensläufe von Frauen in ihren Blick nahm, die nach 1945 in so
genannten unvollständigen Familien oder als Vollwaisen in
Pflegefamilien aufgewachsen sind. Weitere Projekte, die sich mit
deutschen »Kriegskindern« befassen, stehen vor dem Abschluss. Der
vorliegende Sammelband, der auf ein Kolloquium des Gießener SFB aus
dem November 2007 zurückgeht, bildet insofern eine Art
Zwischenbilanz der geschichtswissenschaftlichen Annäherung an das
Thema. Er beinhaltet insgesamt acht Beiträge von Historikerinnen
und Historikern, die, so Mitherausgeberin Seegers, darauf abzielen
»die Entstehung und Ausprägung des Diskurses um die ›Generation der
Kriegskinder‹ als eine ›generation in the making‹ seit den späten
1990 er Jahren zu beleuchten« (S .21). Dies ist vielleicht allzu
bescheiden formuliert, lassen es die meisten Aufsätze doch nicht
mit der Dekonstruktion der grassierenden »Kriegskinder« Hysterie
bewenden. Den Autorinnen und Autoren gelingt es darüber hinaus, die
Stärken einer geschichtswissenschaftlichen Betrachtung des Themas
zu verdeutlichen und Alternativen zu den bisher verwendeten
methodischen Konzepten aufzuzeigen.
Der Band beginnt etwa mit einem äußerst anregenden Beitrag Miriam
Gebhardts über die prägenden Muster der frühkindlichen
Sozialisation in der NS Zeit. Auf der Basis von 71, aus
bürgerlichen Akademikerhaushalten stammenden Elterntagebüchern
arbeitet sie zunächst die zentralen, zwischen den 1930er und 1960er
Jahren im Deutschen Reich sowie in der Bundesrepublik gültigen
Normen für die Säuglings und Kleinkindererziehung heraus. In deren
Mittelpunkt stand das »Ideal des schmerzunempfindlichen Kindes« (S.
53), das mittels eines speziellen Erziehungsstils zu erreichen
versucht wurde. Dazu zählten die Rhythmisierung der Nahrungszufuhr,
die Abhärtung gegen Schmerzen und die zeitliche Beschränkung der
Interaktion zwischen Mutter und Kind. Die Autorin benutzt hierfür
den zeitgenössischen Begriff der »Lebensbemeisterung«, die wiederum
durch eine Übertragung männlicher und weiblicher
Geschlechtsattribute auf die Kinder gekennzeichnet war (S. 44). Ein
Junge wurde schon früh auf virile Körperlichkeit, ein Mädchen auf
ein weibliches Erscheinungsbild getrimmt. Frühkindliche Erziehung
galt als ein Machtkampf zwischen dem »Tyrannen Kind« und den
Eltern.
Der Beitrag von Mitherausgeberin Seegers widmet sich auf der Basis
von 20 lebensgeschichtlichen Interviews mit Männern und Frauen, die
von 1935-1945 geboren wurden und nach dem Zweiten Weltkrieg ohne
Väter in beiden deutschen Staaten aufwuchsen, den Erfahrungen und
Deutungen dieser »Kriegskinder«. Sie zeigt, dass Vaterlosigkeit und
kindliche Kriegserfahrungen in der Bundesrepublik Deutschland
zunächst kaum, dann seit den 1950er Jahren in verstärktem Maße
öffentlich thematisiert wurden. Darin lag ein deutlicher
Unterschied zur DDR, wo davon keine Rede sein konnte. In den von
Seegers ausgewerteten Interviews dominiert neben der Vaterlosigkeit
aber auch noch ein anderer Topos: das Leid der Mutter. In vielen
Familien ergaben sich aus der Abwesenheit des Vaters offenbar
besondere Solidaritätsbande zwischen Müttern und Töchtern.
Ähnliches ist auch dem Beitrag von Eva Maria Silies zu entnehmen,
in dem es um die Erfahrungen junger Frauen mit der
Empfängnisverhütung geht, die sich nach der Einführung der Pille im
Jahre 1961 ergaben. Viele Mütter waren ihren Töchtern bei der
Beschaffung der Pille aktiv behilflich (S. 100) und trugen in einem
gewissen Maße dazu bei, dass diese sich kontinuierlich von den
rigiden Sexualnormen der Adenauer Zeit lösen konnten. Allerdings
waren viele der Frauen, die Silies als Beispiele anführt, erst nach
1945 geboren worden und zählen nicht mehr zur Gruppe der
»Kriegskinder« im eigentlichen Sinne. Die Autorin hätte den Begriff
der »Generation« präziser fassen beziehungsweise mehr empirische
Belege für deren Existenz beibringen müssen.
Dasselbe betrifft auch Barbara Stambolis Ausführungen über Lieder
und gemeinsames Singen als wesentliche Elemente der
Vergemeinschaftung im »Dritten Reich«. Weder wird darin auf die
aktuellen Forschungen zu den Fanfarenzügen der Hitler Jugend und
zur Musikpädagogik dieser NS Jugendorganisation Bezug genommen,
noch gelingt es der Autorin, Reichweiten und Grenzen gemeinsamen
Singens (das im Wesentlichen im Rahmen der »Formationserziehung«
Jugendlicher stattfand) präzise auszuloten. Ihre These, das
NS-Liedgut sei tief im Generationengedächtnis der »Kriegskinder«
verankert, bleibt bloße Behauptung. Methodisch avanciert nähert
sich Ulrike Jureit dem schwierigen Thema »Generation und
Gedächtnis«, indem sie für eine explizite Abkehr von der Theorie
des kollektiven Gedächtnisses plädiert, wie sie Jan und Aleida
Assmann ausgearbeitet haben. Jureit sieht in »Generationen« im
Wesentlichen ein durch Massenmedien konstruiertes Phänomen und
optiert für einen kommunikationstheoretischen Zugang, um diesen
Sachverhalt zu erfassen (S. 130). Wie ein solcher Ansatz aussehen
könnte, teilt sie dem Leser allerdings nicht mit. Dessen zentrale
Komponenten müssten eine Kommunikations , eine Medien- und eine
Gedächtnistheorie sein. Jureit belässt es bei bloßen Andeutungen,
aus denen sich aber immerhin ein gewisses Unbehagen mit dem Begriff
»Generation« entnehmen lässt.
Dass den Medien bei der Selbstverortung der »Kriegskinder« als
Generation eine wichtige Rolle zukommt, ist sicher unbestritten.
Dorothee Wierling aber weist nach, welche Gruppe im Namen der
»Kriegskinder« spricht, nämlich 50 60 akademisch ausgebildete, aus
Westdeutschland stammende Männer. Der Titel ihres Beitrages lautet
dann auch treffend »›Kriegskinder‹: westdeutsch, bürgerlich,
männlich«. Wierling geht es insbesondere um die Gefahren, die aus
dieser Struktur der Sprechergruppe resultieren. Zu Recht beklagt
sie die mangelnde Distanz der »Kriegskinder« zu ihrer eigenen
Erzählung sowie die Durchsetzung eines einseitigen Narrativs von
»Kriegskindschaft«, das in der Interdependenz von beruflichem
Erfolg und individuellem Leid besteht (S. 149). Als Korrektiv
empfiehlt sie, die Forschung an Experten zu übergeben, die nicht
zugleich Betroffene sind, und die gesamte Deutungsgeschichte der
»Kriegskinder« nach 1945 in den Blick zu nehmen. Ein Beispiel für
dieses Vorgehen, das man auch als »longue duree« der
Erinnerungsgeschichte verstehen kann, liefert Malte Thießens
Aufsatz zum Spannungsverhältnis von privater und öffentlicher
Erinnerung. Darin schildert der Autor, wie die Hamburger Bürger
nach dem Zweiten Weltkrieg der im Juli und August 1943 erfolgten
Luftangriffe auf ihre Stadt gedachten. Thießen geht es nicht um
»Kriegskinder«, sondern um den Status des Zeitzeugen, als dessen
Fixpunkt er das »kommunale Gedächtnis« ausmacht. Demnach
orientierten sich viele Hamburger Zeitzeugen an die im
unmittelbaren Lebensumfeld tradierten Erinnerungen und passten ihre
Interpretation der Luftangriffe den dort vorherrschenden
Meistererzählungen an. Thießens Ergebnisse stellen ein wirksames
Gegengift gegen jede unkritische Verwendung von Oral History
Quellen dar. Sie sind insofern auch für die künftige Forschung zu
»Kriegskindern« von hoher Relevanz.
Worin liegt nun die Quintessenz des vorliegenden Sammelbandes? Alle
Autoren plädieren für die Abkehr von psychoanalytischen
Interpretationen, derer sich die massenmedial verbreiteten
Erzählungen der »Kriegskinder« bedienen, und für eine Hinwendung zu
einer Kulturgeschichte kindlicher Kriegserfahrungen, in deren
Zentrum eine kombinierte Diskurs , Erfahrungs und
Erinnerungsgeschichte auf der Basis von Ego-Dokumenten und Oral
History steht. Es geht, mit anderen Worten, um eine
Ver(geschichts)wissenschaftlichung des Themas, bei der die
Selbstaussagen der Betroffenen wieder auf den Status von
Quellenzeugnissen zurückgeführt werden, die immer auch kritisch zu
würdigen sind. Gleichwohl lässt der Sammelband auch eine
schmerzliche Leerstelle erkennen. Dabei handelt es sich um die
Bedingungen jugendlichen Aufwachsens in Diktatur und Krieg, wie sie
sich nach 1933 im sozialdemokratischen und kommunistischen Milieu
entwickelten. Die Kinder, deren Eltern Sozialdemokraten und
Kommunisten waren, machten oft ganz andere Erfahrungen, die sich im
Wesentlichen aus der Verfolgung ihrer Eltern durch das NS Regime
speisten. Diese Gruppe lässt sich nicht unter den Begriff
»Kriegskinder« subsumieren; sie waren eher »Kinder des
Widerstands«. Zu erwähnen sind auch die jüdischen Kinder, die den
Holocaust als Waisen überlebten und deren unendliche Leiden nicht
in Vergessenheit geraten dürfen, wenn jugendliches Alltagsleben im
Zweiten Weltkrieg zur Debatte steht. Wer von den »Kriegskindern«
als Kohorte der zwischen 1936 und 1945 Geborenen spricht, darf vom
Leid anderer Kinder nicht schweigen.